
Die Wiederentdeckung des Fußballs in Niue
Niue – ein Kleinststaat im Pazifik will in die FIFA
Niue ist ein unabhängiger Staat im Südpazifik, der etwa halb so viele Einwohner*innen wie Hoffenheim hat, nämlich 1.681. Im internationalen Sport ist Größe aber eigentlich kein Faktor: San Marino ist ja etwa Mitglied in der UEFA und hat, wie Deutschland, eine Stimme bei allen wichtigen Entscheidungen. So ist auch Niue Mitglied in einigen Sportverbänden, etwa im Judo, Rugby, Tischtennis oder Volleyball. Wie überall in der Region, begann man auch in Niue in den 1960er Jahren damit Fußball zu spielen – und zu organisieren. Die Niue Island Soccer Association (NISA) gründete sich und versuchte spätestens seit den 1980ern Mitglied im ozeanischen Fußballverband OFC und in der FIFA zu werden. Das mag bei der Größe nach einem gewagten Unterfangen klingen, ist aber das gute Recht jedes unabhängigen Staates, denn die FIFA versteht sich selbst als Dachverband aller nationalen Fußballverbänden unabhängiger Staaten (und einiger nicht-unabhängigen Regionen wie England, aber das ist eine andere Geschichte).
Die FIFA stand dem Unterfangen zunächst offenbar auch durchaus positiv gegenüber und lud Vertreter der NISA wiederholt zu Treffen ein. So reiste die NISA nach Samoa, Neuseeland und Tahiti, um Sepp Blatter in den 1980er Jahren dreimal zu treffen. Stets auf eigene Kosten, was bei einem kleinen, ehrenamtlich geführten Verband meist hieß, dass ein einzelner engagierter Freiwilliger privat vierstellige Summen für die Reisen zahlte. Das Ergebnis der vielen Reisen war durchaus positiv: Niue wurde eingeladen, ein letztes Mal nach Neuseeland zu reisen, um dort persönlich den Mitgliedsantrag bei einem Vertreter der FIFA abzugeben. Erneut machte sich ein Vertreter der NISA auf den Weg und kam zum verabredeten Treffpunkt, wo er vergeblich auf den Vertreter der FIFA wartete. Am Ende reiste er enttäuscht zurück und schickte den Antrag per Post zur FIFA in Zürich.
Das Interesse der FIFA hatte in der Zwischenzeit offenbar abgenommen. Wieso weiß in Niue niemand. Auf ihre Bewerbung bekamen sie jedoch jahrelang, auch nach mehrfachem Nachhaken, keine Antwort mehr. Niue wurde geghostet. Erst knapp ein Jahrzehnt später schrieb die FIFA plötzlich wieder: Sie seien zu klein und sollten sich einfach Fidschi anschließen. Ein absurder Vorschlag, weil Niue weder Teil von Fidschi ist, noch Direktflüge nach Fidschi oder irgendwelche Beziehungen nach Fidschi unterhielt. Frustriert gab Niue das Projekt FIFA auf.
Wie die FIFA den Fußball in Niue zerstörte
Was nach einer Verwaltungs-Posse klingt, hatte auf der Insel handfeste Konsequenzen. Nachdem Niue 1983 noch eine Männer-Nationalmannschaft zu den Pazifikspielen schickte und in der Folge gleich drei Ligen im Männer-Fußball organisierte, nahm das Interesse mit der Zeit langsam ab. Da andere Verbände, allen voran Rugby, Volleyball und Gewichtheben, Teil des internationalen Sportsystems wurden, engagierten sich die Insulaner zunehmend in diesen Sportarten, statt Fußball. Das olympische Komitee von Niue, sowie die Regierung des Landes fördert, wie in den meisten Ländern, nur solche Sportarten, deren Fachverbände international anerkannt sind. Durch die Absage der FIFA fiel der Fußball also aus dieser Förderung raus. Anders als in „anerkannten Sportarten“ gab es auch keine Ausbildungen und Fortbildungen von Trainer*innen und Schiedsrichter*innen. Schlimmer noch: In Niue hatte man keinen Zugriff auf die Ausbildungsangebote des ozeanischen Verbands und der FIFA.
Eine Nationalmannschaft vertrat Niue im Fußball nach 1983 so nie wieder. Die Ligen wurden kleiner, auch weil Fußballschuhe und Fußbälle immer seltener auf der Insel wurden. Irgendwann um 2010 gaben dann auch die letzten Fußballer*innen auf und der Sport verschwand schließlich auch aus dem Curriculum der Schulen.
Der Überraschungsfund
Knapp ein Jahrzehnt später dann eine große Überraschung: Als ich versuchte herauszufinden, was mit dem Fußball in Niue passierte, stolperte ich über eine Pressemitteilung des ozeanischen Fußballverbands (OFC) von 2006: Der Verband verkündete, dass Niue nun das jüngste (assoziierte) Mitglied der OFC ist. Eine solche Mitgliedschaft würde Niue Zugang zu internationalen Turnier, aber vor allem auch Entwicklungshilfen, Trainingskursen und Schiedsrichter*innen-Ausbildungen geben.
Mit diesem Überraschungsfund kontaktierte ich den Fußballverband von Niue, den es formal immer noch gab. Er wusste nicht, dass er angeblich Mitglied der OFC ist, hatte seit den 1990ern keinen Kontakt mit dem Verband und sich auch nicht nochmals dort beworben. Natürlich hat Niue auch keine Fortbildungen oder Entwicklungshilfen erhalten. Die Finanzberichte der OFC scheinen dies zu bestätigen: Dort taucht Niue nur in den Jahren 2013 und 2014 auf – weil es in beiden Jahren seinen Mitgliedsbeitrag nicht bezahlt haben soll.
Angefixt durch meine Entdeckung, machte man sich in Niue aber auf, die unverhoffte Mitgliedschaft zu nutzen. Der Verband kontaktiere die OFC, um anzufragen, welche Möglichkeiten sich für Niue aus der Mitgliedschaft ergeben. Doch die OFC enttäuschte die kleine Insel erneut – sie gab an, dass sie Dokumente zur Mitgliedschaft von Niue verschlampt haben und sie nicht mehr Mitglied seien, weil sie ja nicht mehr aktiv seien. Ein Erlöschen einer Mitgliedschaft sieht zwar die Satzung der OFC nicht vor und es war der Verband selbst, der die Dokumente verlor, aber er blieb zur Enttäuschung von Niue hart.

Das Comeback
Die Medienberichterstattung über Fußball in Niue, die es vor allem in Neuseeland gab, führte aber dazu, dass sich jetzt wieder eine Handvoll Fußballbegeisterter fanden, die den Sport wiederbeleben wollten. Ein kleines Team rund um die Generalsekretärin Jama’l Talagi fing um 2020 an, Fußbälle, Schuhe und weiteres Equipment in Neuseeland zu kaufen und auf die Insel zu bringen, um den Bewohnern den Sport wieder näherzubringen. Ein Jahr später, 2021, gründete Jama’l den Fußballverband neu, unter dem Namen Niue Football Association, und trat wieder mit der OFC in Kontakt. Zunächst ohne Erfolg.
Doch das war egal – denn der Sport wächst nun wieder. 2021 und 2022 gibt es erste landesweite Turniere, in denen Siebener-Teams die einzelnen Orte der Insel in unterschiedlichen Altersklassen vertreten. 2023 spielt dann sogar eine Mannschaft mit 11 Spieler*innen der Nordhälfte der Insel gegen eine Auswahl der Südhälfte der Insel. In vielen Altersklassen spielen dabei alle Geschlechter gemeinsam in gemischten Mannschaften – auf der einen Seite, weil sich so leichter Teams auch in kleinen Orten bilden lassen, aber auch, weil man diesmal eben nicht nur die Männer für den Sport begeistern will.
Das liebe Geld und die unerwartete Hilfe
Doch auch wenn der Sport immer beliebter wird, mangelt es an vielem. Es gibt nur zwei mobile und in die Jahre gekommene Fußballtore auf der Insel – gespielt wird auf Rugbyplätzen. Es gibt kaum genug Stollenschuhe, geschweige denn Trikots oder Trainingsmaterial wie Bälle, Hütchen oder Leibchen. Vor allem den beiden Jugendgruppen von fünf bis acht Jahren und bis 12 Jahren scheint das wenig auszumachen – sie schauen mittlerweile die Highlights der großen Spiele in Europa und Südamerika auf YouTube und trainieren jede freie Minute und überall auf der Insel, sagt Talagi. Doch um den nächsten Schritt machen, braucht es dringend besseres Equipment.
Dieses Equipment kommt nun langsam auf die Insel. Sammler von Fußball-Trikots aus aller Welt haben sich zusammengeschlossen, um der kleinen Insel zu helfen. Wenn schon FIFA und OFC nichts für die Entwicklung des Sports tun wollen – so springt eben die Sportcommunity selbst ein. Die Sammler*Innen verabredeten sich gemeinsam in WhatsApp-Gruppen, gemeinsam eine große Anzahl Nationaltrikots von Niue zu leicht erhöhten Preisen vorzubestellen. Trikots, die es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab. Die Firma Insula Sportiva aus Italien erklärte sich dazu bereit, bei einer ausreichend großen Vorbestellung von Trikots die Insel zunächst mit dem notwendigsten zu versorgen: Jeweils 23 Heim- und Auswärtstrikots einer Niue-Nationmannschaft, inklusive Hosen und Stutzen, sowie Torwarttrikots.
Tatsächlich ging die Rechnung am Ende auf. Der Deutsche Andreas Bunk designte Trikots für die Insel, über 50 Sammler bestellten ihre Trikots und die italienische Firma schickte wie versprochen die Trikots auf die Insel. Seit Ende März spielt man in Niue also nun in einem eigenen Trikot. Die Trikots werden parallel online verkauft – die Gewinne fließen dabei weiterhin direkt nach Niue und finanzieren weiteres Equipment, wie Hütchen, Leibchen oder auch mehr Tore für die Insel.

Für die kommenden Jahre hat Niue große Ziele. Die Fußballer*innen wollen Männer- und Frauenteams zu Turnieren in Ozeanien schicken. Da sie vom ozeanischen Verband immer noch nicht anerkannt werden, werden dies vermutlich nur Freundschaftsspiele sein – aber es wären die ersten internationalen Turniere seit 1983 und die ersten Länderspiele für eine Frauenauswahl aus Niue überhaupt. Parallel wird ein lokales Ligasystem derzeit etabliert und eine erneute Bewerbung bei der OFC und FIFA vorbereitet. Niue ist also, ohne jeden Support des großen Fußballs, auf dem Weg, die 212te Fußballnation zu werden.
von Sascha Düerkop