
25 Jahre ballesterer: Interview mit Chefredakteurin Nicole Selmer
Der ballesterer feiert dieses Jahr sein 25-jähriges Jubiläum und wir gratulieren sehr herzlich! Mit Chefredakteurin Nicole Selmer haben wir über die bewegte Geschichte des einzigen unabhängigen Sportmagazins aus Österreich, Entwicklungen im Journalismus und das Aufbrechen männlicher Dominanz im Fußballjournalismus gesprochen.
Gemeinsam mit Moritz Ablinger ist die deutsche Sportjournalistin Nicole Selmer ist seit Sommer 2024 Co-Chefredakteurin des ballesterer, vorher war sie zehn Jahre lang stellvertretende Chefredakteurin. Selmer ist Mitglied der Deutschen Akadiemie für Fußballkultur und Mitgründerin von F_in.
Annika: Erstmal herzlichen Glückwunsch zum 25-jährigen Jubiläum! Wie feiert man so einen Anlass?
Nicole: Wir haben uns vorher überlegt, dass wir das ganze Jahr feiern. Dann ist länger Zeit und es nimmt etwas den Stress raus, der mit Feiern ja auch oft verbunden ist. Im Magazin gibt es eine kleine Rubrik, in der wir uns alte Ausgaben anschauen, und wir haben eine Kampagne zu unserem Geburtstag gestartet, mit Ausgabe 195. Es gibt über das Jahr gestreut Anlässe, zum Beispiel eine Party und wir haben einen Podcast gemacht.

Es wird auch eine Veranstaltung zur Geschichte des Magazins geben. Das alles ist anstrengend, aber auch sehr cool und man erfährt selbst immer wieder neue Dinge.
Mein Eindruck ist, dass es viele Berichte über das Jubiläum und die Magazin-Geschichte gab. Wie hast du das wahrgenommen und wie fühlt es sich an, als Redaktion ausnahmsweise selbst der Gegenstand von Berichterstattung zu sein?
Ich finde auch, es gab viel, auch in Deutschland. Es ist natürlich ein Unterschied, ob du als Expertin etwas einordnest, das gerade passiert ist oder ob du dich selbst einordnest. Aber da haben wir uns drauf vorbereitet. Deswegen ist es vor allem schön.
Der Wunsch nach anderen Perspektiven
Wie funktioniert heute die Arbeit an einem Printmagazin und was hat sich seit der Gründung vielleicht auch verändert, zum Beispiel durch Entwicklungen wie Social Media?

Vor 25 Jahren war ich noch nicht dabei, da haben die Kollegen das Heft im Copyshop kopiert und dann verkauft. Das ist ein massiver Unterschied. Auf der technischen Ebene sind viele Dinge gleichzeitig einfacher und komplizierter geworden. Unsere Grafiker, die das gelernt haben, sind fantastisch. Gleichzeitig ist das Niveau von Printprodukten gestiegen, du kannst als ungelernte Privatperson inzwischen vieles selbst machen und es sieht professionell aus. Wir machen aber ein Magazin, für das Leute Geld ausgeben sollen. Da ist der Druck noch mal größer.
Es ist in digitalen Zeiten ganz besonders, am Ende etwas in der Hand zu haben. Und auch, mit dieser Begrenzung des Papiers zu arbeiten. Du hast nicht das ewige Internet, wo man sagt: „Longread macht man nicht mehr“ oder „macht man jetzt wieder“, aber eigentlich hat man ewig Platz. Dazu die Begrenzung durch den Drucktermin, zu wissen, das Magazin ist eine Woche lang bei der Druckerei. Damit umzugehen ist redaktionell eine Herausforderung, aber gleichzeitig auch toll.
Wie siehst du in der deutschsprachigen Medienlandschaft ein Magazin wie den ballesterer? Einerseits von den Inhalten und der Art, wie ihr Sachen angeht, aber auch vor dem Hintergrund, dass Vereine inzwischen fast ausschließlich ihre eigenen Medien-Inhalte produzieren und das dann unkritisch ist?
Gegründet worden ist das Magazin damals von den Kollegen mit dem Wunsch, etwas anderes lesen zu wollen, andere Inhalte, Zugänge, Perspektiven. Ich finde es immer wieder erstaunlich, Texte aus den ganz frühen Ausgaben zu lesen und zu denken: „Das stimmt immer noch so.“ Auf eine Art fühlt es sich komisch an, etwas wertekonservativ vielleicht. Gleichzeitig ist es gut, weil es zeigt, das, was wir machen, ist immer noch nötig.
Es ist auch für uns ein Problem, dass Vereine am liebsten ihre eigenen Geschichten erzählen wollen, Presseabteilungen Interviews glätten wollen oder gar nicht erst zulassen. Aber es ist weniger wichtig als wahrscheinlich für Medien, die stärker in der tages- und stundenaktuellen Sportberichterstattung drin sind, das war für uns nie so relevant.
Uns ist bewusst, dass wir immer in der Nische bleiben werden. Es ist ein Kampf, diese Nische groß genug zu halten, um überleben zu können. Das ist nicht bequem und immer irgendwie prekär. Unsere Art des Journalismus ist relativ nüchtern und beruht darauf, Dinge darzustellen und nicht so sehr zu bewerten, sondern das den Lesenden zu überlassen. In den letzten Jahren sieht man immer häufiger, dass die berichtende Person in den Vordergrund rückt, in allen Medien. So etwas machen wir nur sehr selten.
Ich denke gerade an Jochen Breyer, wie er in einer TV-Doku gezeigt wird, während er in einem Einkaufzentrum in Katar Gondel fährt.
Ja, genau. Man muss differenzieren, das hat auch seine Berechtigung und wir haben natürlich auch Meinungstexte im Magazin. Aber das meiste ist bewusst sehr zurückgenommen.
Fußball-Themen in Österreich und Deutschland
Es gab vor fünf Jahren eine Rettungsaktion. Da hieß es: „Der ballesterer brennt!“ Welche Rolle spielt das bis heute, hat sich dadurch das Verhältnis zu den eigenen Leser*innen verändert?
Ohne die Kampagne würde es das Magazin nicht mehr geben. Das fiel mit Corona zusammen, allein hätten wir diese Phase nicht überstanden, deswegen wirklich ewige Dankbarkeit dafür! Es bedeutet aber auch viel auf einer psychologischen Ebene, die Rückmeldungen, die wir bekommen haben, was sich Leute für Sachen ausgedacht haben. Das merken wir jetzt in kleinerem Ausmaß, wenn wir Glückwünsche zum 25. geschickt bekommen. Es ist schön, weil du spürst, dass es den Leuten etwas bedeutet. Das weißt du ja nicht dauernd. Wir kriegen manchmal Zuschriften und Leute posten auf Social Media Fotos mit einem Heft. Zu merken, dass es wichtig ist, dass es uns gibt – das war neben dem Geld essenziell.
Als österreichisches Magazin, das aber auch in Deutschland gelesen wird – gibt es Unterschiede zwischen den beiden Ländern, was das Interesse an bestimmten Themen angeht?
Es gibt viele Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland, aber der ganz banale ist der „Faktor zehn“: Deutschland ist zehnmal größer als Österreich. Das macht den Markt größer. In Österreich ist Fußball zwar auch groß, aber es gibt immer noch Skifahren und Fußball hat nicht die gleiche Relevanz. Das macht bei Themen etwas aus. Außerdem schauen auch in Österreich viele Leute nach Deutschland.
Wir gucken also: Wie sieht so ein Heft aus? Wie komponieren wir das so, dass wir vor allem aus Österreich berichten? Aber Deutschland und den internationalen Fußball auch vertreten haben?

Gerade bei den Texten zu Deutschland kannst du nicht einfach die nächste Bayern-Geschichte machen, das hätte keinen Mehrwert. Das bedeutet für mich, ständig umzuschalten und immer beide Perspektiven im Kopf zu haben. Genau das ist aber auch spannend, weil es interkulturell interessant ist.
Wie ist es mit Blick auf den Fußball der Frauen: Wie hat sich da das Interesse der Leser*innen entwickelt und gibt es da Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland?
Das Interesse ist größer geworden. Aus österreichischer Perspektive war die EM 2017 wichtig. Wir hatten vor dem Turnier entschieden, einen Schwerpunkt zu machen, weil das Team sich zum ersten Mal für ein Turnier qualifiziert hatte. Das wollten wir groß machen, logischerweise wussten wir da noch nicht, dass sie bis ins Halbfinale kommen. Die Spielerinnen und der Trainer waren davon interessanterweise nicht so überrascht. Sie sind da sehr selbstbewusst und cool rangegangen, das fand ich im Nachhinein dann noch beeindruckender. Aber grundsätzlich gibt es in Österreich und Deutschland dieses Gefühl, dass es jetzt dann der dritte, vierte oder fünfte „Boom“ ist, an den ich allein mich erinnern kann und es gab weitere. Natürlich ist die Liga in Österreich viel kleiner und das deutsche Nationalteam hat durch die sportlichen Erfolge eine andere Bedeutung, aber strukturell ist vieles ähnlich.
Wie bist du denn eigentlich als Hamburgerin und Dortmund-affine Person zu einem Magazin in Österreich gekommen?
Vor allem über Georg Spitaler. Zusammen mit einer Freundin habe ich etwas für einen Sammelband geschrieben, den er herausgegeben hat. Das ist schon lang her, fast 20 Jahre. Ich kannte und mochte das Magazin und habe in der Zeit angefangen mehr journalistisch zu schreiben, dann auch für den ballesterer zu redigieren. Nicht für Geld, sondern einfach aus Spaß, weil es die Ressourcen brauchte. Ab 2014 hatte ich dann eine kleinere Stelle und seit letztem Sommer bin ich fast in Vollzeit.
„Oh, wir sind ja zu zweit!“: Frauen im Fußball
Warst du dann eigentlich die einzige Frau im Redaktionsteam?
Ja. Nicht immer, wir haben noch mehr freiberufliche Autorinnen, die immer mal wieder für uns schreiben. Aber in diesem engeren Kreis und jetzt auf Führungsebene schon.
Beschäftigt dich das und würdest du sagen, dass es deine Arbeit manchmal vielleicht auch beeinflusst, aus dem Wunsch heraus es zu verändern?
Ja, auf jeden Fall. Es ist für mich keine neue Erfahrung, weil du als Frau im Fußball häufig diese Situationen hast. Da fällt es eher auf, wenn du mal in einer Runde sitzt und denkst, „Oh, wir sind ja zu zweit!“ Manchmal gibt es auch Redaktionssitzungen und Klausuren, bei denen wir zu dritt sind. Das ist dann super. Klar fände ich es gut, wenn wir noch mehr Autorinnen, Fotografinnen und so weiter hätten. Deswegen: Meldet euch! Artikelvorschläge, Fotovorschläge, was auch immer. Was mir wichtig ist: Ich versuche das nicht allein, das ist auch den Kollegen ein Anliegen und das ist entscheidend. Denn das ist genau der Mechanismus, dass die Frau sich allein drum kümmern soll, dass es mehr Frauen werden und an Männer gibt es nicht diesen Anspruch. Das ist nicht der Weg.
Uns geht es auch darum zu schauen, dass es mehr weibliche Stimmen im Heft gibt: Spielerinnen, Funktionärinnen, Expertinnen, weibliche Fans. Das ist ein wichtiger Faktor, um diese männliche Dominanz aufzubrechen. Das fällt mir leichter, weil ich eben viel mehr Frauen kenne, die etwas machen, da habe ich ein anderes Netzwerk als die Kollegen.
Du bist Chefredakteurin geworden, zusammen mit Moritz Ablinger. Hat sich dadurch für dich persönlich dann noch mal was verändert? In der Arbeit oder vielleicht auch das Gefühl, wie du wahrgenommen wirst?
Eigentlich erstaunlich wenig, muss ich sagen. Vorher war Jakob Rosenberg alleiniger Chefredakteur und meine Position stellvertretende Chefredakteurin, über zehn Jahre. Das war eine sehr enge Zusammenarbeit. Natürlich hatte Jakob die Letztverantwortung, aber wir haben da schon sehr viele Dinge abgestimmt, deswegen war es wenig Umgewöhnung. Ich habe schon gemerkt, dass es im Außenblick teilweise einen Unterschied gibt, aber eigentlich war der größer, als ich damals „Stellvertretende Chefredakteurin“ in meine Signatur geschrieben habe. Vielleicht gibt es auch heute teilweise die Wahrnehmung, dass Moritz die Arbeit allein macht. Dass ich eigentlich die Buchstaben zusammenfege, die unter den Tisch fallen und das seit elf Jahren, während die Männer immer die eigentliche Arbeit verrichten. Das würde ich nicht ganz ausschließen, dass es diese Vorstellung noch immer gibt. Aber das muss man ausblenden können, sonst drehst du durch.
Hast du denn das Gefühl, dass der Anspruch an dich jetzt noch mal ein anderer geworden ist? Oder ist das etwas, was dich nicht so beschäftigt?
Ich bemühe mich, dass mich das nicht zu sehr beschäftigt. Als Frau in diesem Fußballkosmos hat niemand auf dich gewartet, es ist niemand wahnsinnig begeistert, dass du da bist. Ich versuche, nicht zu viel drüber nachzudenken. Gleichzeitig will ich die Geschlechterverhältnisse im Fußball wahrnehmen, beobachten und analysieren. Und eben solidarisch sein und etwas positiv verändern. Aber für mich persönlich will ich es nicht so groß werden lassen.
Wie fördert ihr denn Kolleginnen ganz speziell?
Es wird dieses Jahr wieder ein ballesterer trainingslager geben. Da haben wir schon beim letzten Mal vor zwei Jahren explizit versucht, Teilnehmerinnen zu gewinnen. Das wollen wir jetzt auch wieder, wir freuen uns total, wenn sich nicht nur weiße Männer melden. Es ist nicht einfach, wir haben über die Jahre ab und zu Praktikumsstellen gehabt und in 25 Jahren hat es nur eine Praktikantin gegeben. Nicht, weil zehn abgelehnt worden sind, sondern weil sich nur eine beworben hat. Du musst sehr viel mehr tun, um in dieser Fußballwelt Frauen zu gewinnen. Typischerweise muss man häufiger nachfragen: „Willst du uns noch mal was vorschlagen?“ Das ist im Alltag oft schwierig, diese Wege doppelt und dreifach zu gehen, weil so schon viel zu tun ist. Das versuchen wir, aber es ist nicht so leicht.
„Recherche vor Ort ist was Besonderes“
Kommen wir zurück zum Magazin: Gibt es Geschichten oder auch Coverseiten, an die du dich besonders gerne erinnerst?
Oh ja, viele! Wir hatten eine Covergalerie zum Jubiläum mit unserer Presseaussendung verschickt, da die Auswahl zu treffen war schwierig. Das haben wir gemeinsam mit den Grafikern gemacht, die finde ich alle toll. Ich habe letztens noch mal unser RB Leipzig Cover angeguckt, #120. Das sieht aus wie eine Dose.
Das war fantastisch, wir haben völlig verschiedene Rückmeldungen bekommen, von: „Das ist so toll“, bis hin zu, „Seid ihr wahnsinnig? Jetzt fangt ihr auch an!“
Da weiß man, du hast jetzt entweder alles falsch oder alles richtig gemacht, kannst du dir aussuchen. Besonders schön sind die Cover, die Leute von uns fotografiert haben. Unser Istanbul Cover aus dem letzten Jahr zum Beispiel, oder eben auch den Schwerpunkt zur Bundesliga der Frauen von der Hohen Warte. Auch Personen: Ich mag das mit Marko Arnautovic von Stefan Reichmann und auch das mit Christa Tauschek, das Daniel Shaked für uns fotografiert hat.
Und was ist mit besonderen Recherchemomenten? Manchmal kommt man in Situationen, mit denen man vorher nicht gerechnet hat.
Das ist manchmal was ganz Kleines. Es gab ein kurzes Interview, das ich mit Sigfried Held geführt habe für unseren Schwerpunkt zur WM 1966 über das Finale. Er hatte damals gerade eine OP am Kehlkopf und eine raue Stimme, wir haben gar nicht lange telefoniert. Aber es hat mich sehr berührt. Das war 50 Jahre danach und er hat gesagt: „Der zweite Platz ist kein Trost. Es tut immer noch weh.“ Da ist so null Selbstdarstellung, das geht einem nahe.
Und Recherche: Ich war für das aktuelle Heft in Leipzig, habe eine Geschichte zu Lok gemacht. Das ist immer toll, irgendwohin zu gehen, etwas im Kopf zu haben und dann zu merken: den Teil kann ich jetzt aber wieder rausschmeißen aus dem Kopf. Alles aufzusaugen, alles anzugucken, zu riechen, zu hören, mit den Leuten zu reden, das ist immer gut. Auch egal, ob es ein schönes Erlebnis ist oder ein weniger schönes. Ich finde auch Geschichten vom Schreibtisch okay, mache ich auch gern. Aber Recherche vor Ort ist noch mal was Besonderes.
Was sind deine Wünsche und Hoffnungen, damit es weitere 25 Jahre ballesterer werden?
Wir haben uns mit unserer Kampagne zum Geburtstag Ziele gesetzt, oder ehrlicherweise eigentlich unseren Leser*innen. Wir wünschen uns 500 neue Abos und 50 neue ballesterer Supporter, das wäre fantastisch. Wir merken schon eine Wirkung. Wir haben ein paar Abo-Aktionen, die wir jetzt machen. Ich wünsche mir, dass es das Magazin weitergeben kann und Leute uns nicht nur lesen, sondern auch weiter für uns schreiben wollen, den Journalismus, den wir machen, selbst pflegen wollen, dass es Nachwuchs gibt.
Beitragsbild: ballesterer
Sehr guter Einblick in ein Leben als Chefredakteurin und in den Ballesterer. Recommended reading!