
Interview: Fußball jenseits der Binarität
Wenn es im Fußball um geschlechtliche Vielfalt geht, steht dahinter zu oft noch eine Weltsicht, die Gender lediglich in zwei Kategorien einteilt: Mann und Frau. Wie kann das Konstrukt von Binarität im Sport aufgebrochen werden? Darüber sprechen wir mit Dr. Karolin Heckemeyer, Dozent*in an der Fachhochschule Nordwestschweiz, die zu geschlechtlicher Vielfalt und sozialer Ungleichheit im Sport forscht.
Wie können wir uns im Fußball dem Thema Geschlechtervielfalt annähern – und zwar so, dass es nahbar wird und funktioniert? Und können Fanprojekte dabei eine Rolle übernehmen?
Dr. Karolin Heckemeyer: Geschlechtliche Vielfalt mag als Thema im Männerfußball nicht so präsent sein, existiert im Sport aber ja durchaus. Ich glaube, eine Möglichkeit wäre, diese Annäherung konkret über Athlet*innen zu erreichen. Ein Beispiel aus dem Fußball ist Quinn, eine nicht binäre Person aus Kanada, die im Nationalteam der Frauen spielt. Ebenfalls in Kanada, aber im Eishockey, spielt mit Harrison Brown eine trans Person. Er hat in der NWHL – also in einer Women’s League – gespielt. Solche Beispiele können als guter Einstieg funktionieren, um darauf zu verweisen, dass Sport trotz seiner eindeutigen Trennung in Frauen- und Männerbewerbe mehr Geschlechter beinhaltet – und Raum für mehr Geschlechter braucht, als diese Struktur sie bereitstellt.
Ich glaube, es braucht immens viel Kompetenz, um das Thema in einer Art und Weise einzuführen, die speziell junge Menschen sensibilisiert und sie dabei mit Ängsten und womöglich Widerständen ernstnimmt. Oft ist das Ungewohnte zunächst schräg, sprich: Wenn ich nicht in der LGBTIQA*-Communitiy zuhause bin, begegne ich dem Thema vielleicht erstmal mit Unsicherheit und aus der Distanz. Da braucht es fachliche und pädagogische Kompetenz, so wie sie ja in der Anlaufstelle für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt vorhanden war. Leider ist die Anlaufstelle vom DFB Ende 2024 eingestellt worden.

Du sprichst ein sehr wichtiges Thema an, nämlich den Raum für Ängste und innere Widerstände. Warum ist der so wichtig?
Ein Problem, das ich immer wieder erkenne – nicht nur mit Blick auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt, aber da in besonderer Weise –, ist, dass Themen stark medial dominiert sind. Und zwar so, dass viele Fragen entstehen, auch, weil Themen sehr banalisierend und reduziert, sehr unterkomplex behandelt werden. Darin sehe ich ein zentrales Problem. Wir müssen also andere Räume schaffen, in denen Fragen differenzierter beantwortet werden können. Zudem glaube ich, dürfen wir die emotional-affektive Dimension im Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt nicht unterschätzen. Viele Menschen haben zu den Themen erstmal Fragen, die natürlich auch aus einer Form von Nichtwissen resultieren. Es braucht Räume, in denen Begrifflichkeiten eingeführt werden, in denen Fragen beantwortet werden können – und wo Menschen dazu angeregt werden, ihre eigenen Emotionen im Umgang mit einem bestimmten Thema zu reflektieren. Wir kennen es von Rassismus im Sport, dass weiße Menschen, wenn sie damit konfrontiert werden, dass sie rassistisch handeln, schnell ablehnend reagieren – Stichwort ‚white fragility‘. Ich denke, diese Fragilität, dieser Wunsch, zu betonen: „Ich bin doch eine gute Person! Ich habe nichts falsch gemacht!“, ist spannend und zeigt, dass es Räume braucht, wo Menschen Fehler machen dürfen und wachsen können.
Wir müssen andere Räume schaffen, in denen Fragen differenzierter beantwortet werden können.
Dr. Karolin Heckemeyer
Du hast vorhin die ehemalige Anlaufstelle des DFB angesprochen, die ja wesentlich war dabei, ein neues Spielrecht für Jugend und Amateur*innen einzuführen: ein wichtiger erster Schritt. Wie schafft man, dass solche Änderungen in der Breite gelebt werden?
Erstmal ist es wichtig, sich klarzumachen: Eine verabschiedete Regelung, die Dinge in der Theorie ermöglicht, bedeutet noch nicht, dass sich Verhältnisse ändern. Dafür braucht es kontinuierliche Arbeit. Wie Menschen in Vereinen mit geschlechtlicher Vielfalt umgehen, ändert sich nicht über Nacht durch eine neue Regelung. Das heißt, aus meiner Perspektive hat sich das Handeln erst dann verändert, wenn auf Webseiten von Vereinen und Verbänden explizit steht, dass sie offen sind für TIN*-Personen, und diese nach dem-und-dem-Prinzip mitmachen können bei Leistungswettbewerben oder Training. Das Zweite ist, dass es einen Nachweis geben muss, dass Leute, die Trainings gestalten, die Sport gestalten, sich mit dieser neuen Regelung auseinandergesetzt haben – und damit, was es dafür braucht. Was ich aber aus meiner Arbeit weiß, ist, dass in Vereinen immer viel zu tun ist und die Personen dort solche Themen nicht alleine stemmen können. Dafür braucht es Unterstützungsorte und -strukturen, und da sind wir wieder bei der Notwendigkeit einer zentralen Anlaufstelle.
Wie argumentiert man, wenn Leute darauf beharren, Geschlecht sei eine faire Einteilung, um Leistung zu vergleiche – und womöglich sogar die einzige?
Hinter der Entstehung der Leistungsklasse Geschlecht steht historisch betrachtet nicht das Anliegen, faire Wettbewerbe zu gestalten. Sportliche Betätigung, sportliche Wettkampf, richtete sich anfänglich ausschließlich an cis Männer. Wie sich das Feld des Sports erweitert hat, das wäre jetzt eine sehr lange Ausführung. Spannender ist aber doch erstmal das: TIN*-Personen erleben bis heute etliche Widerstände in unserer Gesellschaft – und sehen sich konfrontiert mit Marginalisierung, Diskriminierung und mit Formen verbaler sowie körperlicher Gewalt. Gleichzeitig sind das Menschen, die entscheiden sich: Sie möchten Sport treiben.


Das heißt, wir müssen eigentlich vielleicht ganz andere Fragen stellen?
Ich verweise da gern auf eine Anmerkung des US-amerikanischen Athleten Chris Mosier, der in Zusammenhang mit der trans Schwimmerin Lia Thomas gesagt hat: Am Ende des Tages ist auch Lia Thomas einfach eine Person, die Lust hat, sich zu bewegen, ihre sportlichen Fähigkeiten zu verbessern, Bestleistungen persönlich zu erbringen. Für mich ist die eigentliche Frage also: Wie schaffen wir es, erstmal von den Gemeinsamkeiten aus zu denken, statt von der Frage, mündet das irgendwie in unfaire Wettbewerbe? Ich sage nicht, dass die Fairness-Debatte eine leichte Debatte ist, aber sie reduziert sich definitiv nicht auf die Kategorie Geschlecht und ein paar körperliche Merkmale. Wir sollten so mutig sein, sie ganz grundlegend zu führen.
Du hast vorhin von notwenigen Räumen gesprochen. Wie sieht es aus mit einer Art Handwerkszeug, um diese Themen anzusprechen?
Das ist komplex. Eine Frage, die ich mir da stelle, auch wenn sie womöglich banal klingt, ist: Können wir nicht erstmal darüber sprechen, dass es sich um unterschiedliche Existenzweisen von Menschen handelt, die aber alle ein gemeinsames Interesse haben, nämlich eine Liebe für Sport, für Fußball. Und die Lust haben, gemeinsam zu schauen und zu jubeln für ihr Team, oder die sich gemeinsam bewegen wollen. Ich glaube, dass sich so automatisch Anknüpfungspunkte ergeben. Das Zweite ist, dass ich vermute, die wenigsten Menschen in diesen Verbands- und Fußballkontexten kennen überhaupt TIN*-Personen. Wenn ich bestimmte Lebensrealitäten nur aus den Medien kenne, reicht das aber nicht. Wir müssen also Begegnungen schaffen.
Worum es auch geht, ist, Widersprüche anzuerkennen. Wir lieben Fußball! Aber Fußball ist leider nicht per se ‚gut‘ und ‚inklusiv‘, sondern immer wieder auch ausschließend und diskriminierend. Aber muss er das sein? Können wir nicht zeigen, dass ein leidenschaftliches Fan-Sein auch möglich ist, ohne zum Beispiel auf der Tribüne gegen geschlechtliche Vielfalt zu schimpfen? Diese Spannung zwischen der Liebe zum Fußball und der Anerkennung, dass er nicht im Kern inklusiv ist, auszuhalten, ist eine Herausforderung. Aber gemeinsam können wir uns fragen: Wie kriegen wir es hin, dass der Sport sich verändert, den wir so lieben, damit er inklusiv ist. Da spielen übrigens die Fanprojekte mit ihrer Arbeit eine wichtige Rolle.
Das Interview ist zuerst erschienen im aktuellen Sachbericht der Koordinationsstelle Fanprojekte KOS, den ihr hier herunterladen könnt.