Ein Mann in Anzug, Weste und Hut steht mit den Händen in den Hosentaschen vor einem Fußballtor. Er trägt eine Taschenuhrkette und blickt ernst in die Kamera. Die Aufnahme ist schwarz-weiß.

Zwischen Ritterlichkeit und Schauspielerei – die Abseitsfalle als Zankapfel des Fairplay

Anfang der 1920er Jahre stand das Spiel an einer Weggabelung. Die Zuschauerzahlen stagnierten, die Stimmung an den Spielfeldern trübte sich. Und mittendrin: eine Falle, die heute als taktisches Finessenwerkzeug gilt, damals aber hitzige Debatten auslöste – die Abseitsfalle.

Absichtlich ins Abseits stellen? Das ist doch unfair!

So empfanden es viele Fans und Aktive vor 100 Jahren. Das gezielte „Abseitsstellen“ – die Abseitsfalle – galt als gemeiner Hinterhalt, als listiger Taschenspielertrick – eine Methode, die nicht etwa die Kunst des Verteidigens zelebrierte, sondern den Gegner bloßstellte. Was heute als taktische Finesse gilt, wurde damals als „unritterlich“ empfunden (gleiches galt übrigens auch für Auswechslungen, sogar im Fall einer Verletzung!) Wer absichtlich in eine Falle lockte, missbrauchte das Regelwerk für ein Theaterstück, so die gängige Meinung.

Aber nicht von allen.

Ein Ire in Newcastle – und die Geburt der Abseitsfalle

Im September 1903 wechselte der junge William „Bill“ McCracken von der Belfaster „Distillery“ zu Newcastle United. Zwanzig Jahre blieb er – als Verteidiger, als Taktiker, als Mann mit Idee. Er, so behauptete McCracken später, habe die Abseitsfalle erfunden. Ob das stimmt, wusste man auch 1923 nicht so genau. Was man aber wusste: Er perfektionierte sie.

Mit seiner Verteidigungslinie trieb er gegnerische Stürmer in die Irre. Und wenn jemand fragte, ob das nicht ein wenig… unfair sei, konterte McCracken mit der Logik des Regelwerks selbst: Die Abseitsregel sei schließlich geschaffen worden, um Verteidigern Schutz zu bieten. Wenn die Stürmer klüger agierten, so McCracken, hätte er ja keine Chance. Nicht er sei das Problem – sondern die Angreifer, die ihre Intelligenz nicht nutzten.

Noch Sportgeist oder schon Schauspiel?

Die Debatte spitzte sich zu. Friedrich Schmal, ein kritischer Beobachter seiner Zeit, formulierte es mit fast literarischer Deutlichkeit: Das „Ein-Verteidiger-System“ – die damalige Bezeichnung der Abseitsfalle – sei eine Verzerrung des Spiels. Die Verteidiger seien doch „keine Schauspieler“ und sollten es auch nicht sein. Statt in Rollen zu schlüpfen, sollten sie ihre eigentliche Aufgabe erfüllen: zu verteidigen. Das „letzte Refugium“, das eigene Tor, dürfe nicht leichtfertig preisgegeben werden.

Auch Andrew Wilson, ein schottischer Stürmer, übte leise Kritik – mit einem fast ritterlich-historischen Tonfall: In der Abseitsregel lebe „jenes Maß von Wohlwollen“, das man im ganzen Leben als Ritterlichkeit schätze. Sport sei mehr als Muskelkraft. Er brauche Moral, Rücksicht – ein Regelwerk, das nicht nur den Körper fordere, sondern auch das Herz anspreche.

Reformideen zwischen Yard-Linien und Gegenspielern

Doch immer mehr Verteidiger kopierten McCracken und setzten die Abseitsfalle ein – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Die Folge: So manche Fans verloren ihr Interesse am Fußballschauen durch die ständigen Unterbrechungen des Spiels, weil auf Abseits entschieden wurde.
Deswegen forderten auch immer mehr Funktionäre eine radikale Lösung: Weg mit dem Abseits! Doch auch das wurde scharf hinterfragt. Puddefort, ein Vertreter des wohlmeinenden Mittelwegs, warnte: Ohne Abseits kein Kombinationsspiel. Und Schmal stellte nüchtern fest: Die Treffer würden an Wert verlieren. Das Spiel würde „verwildern“, das „unritterliche Lauern vor dem Tor“ gefördert – und das Ganze zu einer Farce verkommen. Der Ball wurde zu einer Frage des Charakters.

Die FA stand also vor einer Entscheidung – und vor ihr lagen verschiedene Alternativen:

  1. Ein Abseitsbereich 40 Yards vor dem Tor: Diese Lösung wurde mehrfach als Vorschlag in die jährliche Generalversammlung des IFAB eingegeben – mal von England, mal von Schottland. (1920 außerdem zusätzlich der Vorschlag mit einem Abseitsbereich 25 Yards vor dem Tor.)
  2. Die „mindestens zwei Gegenspieler“-Regel: Dieser Vorschlag beinhaltete, nur noch zwei Verteidiger (statt bisher drei) als „letzte Linie“ zu verlangen. Dieser Vorschlag wurde 1922 vom schottischen Verband in die Generalversammlung des IFAB eingebracht – in Kombination mit der 40-Yards-Zone.

Doch alle diese Vorschläge zwischen 1920 und 1923 scheiterten an der nötigen Mehrheit. Trotzdem wuchs der Druck. Selbst Sir Frederick Wall, damaliger Secretary der FA, erklärte öffentlich: Es sei an der Zeit, die Abseitsregel zu reformieren – und sprach sich deutlich für die zweite Lösung aus.

1924 – Das Experiment wird beschlossen

Im Frühjahr 1924 wagte man einen vorsichtigen Schritt: Der schottische Fußballverband schlug erneut den 40-Yards-Bereich vor. Wieder scheiterte der Vorschlag knapp – aber diesmal einigte man sich auf eine historische Empfehlung: Beide Varianten – ein Abseitsbereich 40 Yards vor dem Tor sowie die „mindestens zwei Gegenspieler“-Regel – sollten in der Saison 1925/26 getestet werden.

Und wie das ausging – das erzählen wir im nächsten Teil dieser Reihe.

Beitragsfoto: IMAGO / Colorsport

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Petra Tabarelli ist Fußballhistorikerin und -journalistin. Die Spezialistin für die Entwicklung der Fußballregeln schreibt für die DFB-Schiedsrichter-Zeitung, ist als Expertin im Deutschlandfunk zu hören und hat als Beraterin fürs IFAB gearbeitet. Tabarelli ist Mitglied des prämierten Kollektivs „FRÜF“ und setzt sich in der web.de-Kolumne für eine stärkere Präsenz und Förderung von Schiedsrichterinnen im Fußball der Männer ein. 2023 wurde sie zum Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur ernannt. Zudem hat die Expertin die erste Biografie über den zu Lebzeiten sehr bekannten Simon Rosenberger geschrieben, einen jüdischen Fußball-Pionier und Begründer der DFB-Schiedsrichter-Zeitung, der zuvor aus der Geschichte getilgt worden war.

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