Collage aus drei Fotos die von links nach rechts ineinander übergehen. Ganz links ist ein schwarzweiß Bild aus dem Jahr 1939, das die Erzielung eines Tores aus Abseitsposition zeigt. Ein Angreifer im weißen Hemd schiebt den Ball aus kürzester Distanz über die Torlinie, Torhüter und Verteidiger sind hinter ihm und können nur hinterhergucken. In der Mitte der Collage ist ein Foto der WM der Männer 1990. Man sieht aus der Perspektive hinter dem Tor wie ein Verteidiger Italiens im blauen Trikot den Arm hebt, um Abseits zu reklamieren, während sein Teamkollege von versucht, dem Ball hinterherzuspringen, den ein Angreifer offenbar aufs Tor geköpft hat. Ganz rechts in der Collage sieht man einen Lininenrichter von hinten bei der Arbeit, er hat eine Fahne in der Hand und hält diese locker neben dem Körper, während er von der Seitenlinie in den Strafraum schaut.

Sheffield und Schottland zaubern, London zögert

Anlässlich des Jubiläums der letzten großen Änderung der Abseitsregel vor 100 Jahren blicken wir in einer Serie auf die Entwicklung einer Fußballregel im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte. Nachdem wir in Teil 1 die Ursprünge der Abseitsregel und der Fußballregeln im Allgemeinen näher beleuchtet haben, wollen wir uns nun den Entwicklungen um die Jahrhundertwende zuwenden.

Um 1900 hatten sich die verschiedenen Formen des Fußballs entwickelt: Rugby und Fußball, American Football, Gaelic Football, Australian Football und viele mehr. Das Fußballspiel revolutionierte sich durch den Übergang von der strikten Abseitsregel „Alle folgen mir“ zum Dreier-Abseits: Das Kombinationsspiel wurde für die Zuschauer*innen viel attraktiver und der Fußball spätestens ab den 1870er Jahren in Großbritannien zu einer Wirtschaftsmacht. Das mussten auch die Gentlemen in London einsehen, die sich nur widerwillig von ihrer strikten Abseitsregel verabschiedeten.

Einfach gar kein Abseits?

Aber das war nicht überall in Großbritannien so, ja, nicht einmal innerhalb Englands: Im nordenglischen Sheffield war der Einfluss der schottischen Spielweise des Fußballs bereits um 1850 spürbar: In Schottland war das Zweier-Abseits in den Regeln vorgeschrieben, also sehr ähnlich wie jetzt im Jahr 2025 (wie sie bei „gleicher Höhe“ entschieden, ist meines Wissens nicht überliefert). So war ein schnelles, torreiches Kombinationsspiel möglich – ganz im Gegensatz zu den Vereinen rund um London, die sich 1863 zusammenschlossen. Sie nannten sich schlicht „Football Association“ und hatten den Anspruch, ein nationaler Verband zu sein, wo sie in den ersten ein, zwei Jahrzehnten lediglich ein regionaler Verband rund um London waren.

Zu dieser Zeit war in Sheffield ein Verein gegründet worden, der heute der älteste noch existierende Fußballverein ist: Sheffield FC. Dieser Verein hatte – wie damals üblich – seine eigenen Regeln. In der Zeit zwischen der Gründung des Sheffield FC (1858) und der Gründung der Sheffield FA (1867) gab es keine Spiele gegen andere Vereine, da der FC zunächst für einige Jahre der einzige Verein in der näheren Umgebung war. Stattdessen wurden nach den Anfangsbuchstaben der Nachnamen zwei Teams gebildet, die gegeneinander antraten. Die Regeln des Sheffield FC kann man hier nachlesen, auch die Abseitsregel: „Offside: Someone who stand behind the touch line and goal line, is offside.“ Das ist für uns heute selbstverständlich und das Fehlen einer weitergehenden Einschränkung lässt vermuten, dass es keine Abseitsregel in unserem heutigen Sinne gab. Die Zuschauer*innen liebten das Spiel.

The scientific play

Das wurde natürlich auch in Südengland wahrgenommen. Die FA in London merkte das an einem nachlassenden Mitgliederzulauf, denn wer FA-Mitglied werden wollte, musste auch nach den Regeln spielen. So lockerte man 1866 die Abseitsregel – nicht aus Überzeugung, sondern zähneknirschend, weil man weiterhin ein nationaler Verband bleiben wollte. In London galt ab 1866 das Dreier-Abseits.

Doch die 1867 im Norden Englands gegründete Sheffield FA lief der Football Association den Rang ab. Die Sheffield FA übernahm zwar nicht die abseitsfreien Regeln des Sheffield FC, dafür aber das schottische Zweier-Abseits.

Dieses attraktive und schnelle Spiel wurde damals auch „scientific play“ genannt, weil es so außergewöhnlich war. In Deutschland würde man es wohl eher „Zauberfußball“ nennen. Spieler aus Schottland waren bei den englischen Vereinen heiß begehrt – und damit eine der Triebfedern des beginnenden Fußballkommerzes. Der moderne Fußball war geboren. Man spielte Fußball nicht mehr zum Zeitvertreib, sondern als Beruf – und wollte dafür auch entsprechend entlohnt werden.

Vier junge Männer in Anzügen mit Taschenuhrenketten stehen vor einem Ziegelgebäude. Im Hintergrund ist eine geöffnete Tür mit der Aufschrift „Private – Visiting Team“ zu sehen. Das Foto stammt vermutlich aus der Zeit um 1913/14.
Vier Fußballspieler des frühen 20. Jahrhunderts posieren im Dreiteiler mit Taschenuhren vor dem Eingangsbereich der Gästekabine. Von links nach rechts: Michael Mickey Hamill (Irland und Manchester United), Robert Bob Crompton (England und Blackburn Rovers), Billy Meredith (Wales und Manchester United) und James „Jimmy“ Campbell (Schottland und Sheffield Wednesday). Foto: IMAGO/Colorsport

Rolle rückwärts

Aber es soll hier weder um die Ursprünge des modernen Fußballs gehen oder darum, wie es der Football Association gelang, regionale Verbände wie die Sheffield FA in sich aufzunehmen und um 1880 zum nationalen Fußballverband Englands zu werden. Wir springen direkt sechs Jahre weiter, als die vier britischen Verbände (England, Schottland, Wales, Irland) 1886 das International Football Association Board gründeten, um internationale Spiele zwischen ihnen zu ermöglichen. (Irland war damals noch nicht geteilt.) Zu diesem Zweck wurden die vier nationalen Regelwerke zu einem einzigen verschmolzen. 

Wie in der Politik nahm England auch im Fußball eine Vorreiterrolle innerhalb des United Kingdom ein. So verwundert es nicht, dass die Laws of the Game von 1886 nahezu identisch mit den FA Rules von 1885 sind. Die große Ausnahme: Der Einwurf (in der bis heute gültigen Form) ist schottisch! Das schottische Zweier-Abseits wurde aber nicht in die Regeln übernommen. Deshalb schlug der schottische Verband immer wieder „sein“ Abseits als Regeländerung vor. Ohne Erfolg. Sie fanden keine Mehrheit. Bis… vor 100 Jahren.

Fotos in der Collage im Beitragsbild:
IMAGO/TopFoto. PALT Dartford gegen Arsenal Reserves 04.02.1939 – Southern League. Arsenal erzielt ein Tor, aber es wird auf Abseits entschieden.
IMAGO/Sven Simon. Italiens Franco Baresi (links) reklamiert eine Abseitsstellung von Ľubomír Moravčík (rechts, CSFR), denn Giuseppe Bergomi kommt gegen ihn zu spät. Fußball-WM der Männer 1990.
IMAGO/Noah Wedel. Linienrichter Adam Nunn beim Champions League Halbfinale der Männer zwischen dem BVB und PSG am 01.05.2024.

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Petra Tabarelli ist Fußballhistorikerin und -journalistin. Die Spezialistin für die Entwicklung der Fußballregeln schreibt für die DFB-Schiedsrichter-Zeitung, ist als Expertin im Deutschlandfunk zu hören und hat als Beraterin fürs IFAB gearbeitet. Tabarelli ist Mitglied des prämierten Kollektivs „FRÜF“ und setzt sich in der web.de-Kolumne für eine stärkere Präsenz und Förderung von Schiedsrichterinnen im Fußball der Männer ein. 2023 wurde sie zum Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur ernannt. Zudem hat die Expertin die erste Biografie über den zu Lebzeiten sehr bekannten Simon Rosenberger geschrieben, einen jüdischen Fußball-Pionier und Begründer der DFB-Schiedsrichter-Zeitung, der zuvor aus der Geschichte getilgt worden war.

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