Man erkennt leicht unscharf eine Menschentraube, aus der sich sieben Personen erheben, weil sie von anderen gestützt werden. Sowohl die Menschen in der Traube als auch die leicht erhobenen Personen versuchen einen blau-grünen Ball mit einem gemalten Bild mit den Händen zu berühren

Fastnacht & Fußball – Royal Shrovetide Football

Fastnacht, Karneval, Fasching … die fünfte Jahreszeit hat in Deutschland viele Namen. Dass das öffentliche Leben für mehrere Tage zugunsten einer ausgelassenen Massenbelustigung stillsteht, ist keine Seltenheit. In Ashbourne bei Manchester geschieht an diesen Tagen etwas Ähnliches – und doch ganz anderes: Dort heißt die Massenbelustigung schlicht „Football“.

Royal Shrovetide Football ist eine Form von Fußball- und Rugby-Spiel, das an die Ursprünge des Spiels vor Jahrhunderten erinnert: Hier spielen alle miteinander. Es gibt weder Begrenzungen der Spieler*innenzahl noch eine strikte Trennung zwischen Akteur*innen und Zuschauer*innen. Im Mittelalter uferten diese Spiele oft zu regelrechten Kämpfen aus, mitunter unter Zuhilfenahme von Mistgabeln und anderen improvisierten Waffen. Kein Wunder, dass sie immer wieder verboten wurden.

Mittelalterlicher Fußball

Die offene und wenig reglementierte Spielform existierte bereits vor dem Mittelalter, erlebte aber in der Zeit zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert eine Blütezeit und wurde zur Tradition. Eine Tradition, die bis heute in manchen britischen Städten und Orten weiterlebt. Einer davon ist Shrovetide Football, der an Shrove Tuesday (Fastnachtsdienstag) und Ash Wednesday (Aschermittwoch) gespielt wird.

Die früheste bekannte Erwähnung von Football – wenn auch nicht unter diesem Namen – stammt aus den Aufzeichnungen des englischen Klerikers William Fitzstephen um 1174. Er beschreibt, wie in London dieses Spiel zu den klassischen Vergnügungen des Tages vor Beginn der Fastenzeit gehörte. Die erste schriftliche Erwähnung des Wortes Football findet sich im Jahr 1314 im Zusammenhang mit einem Verbot in London – dem ersten von vielen in den kommenden Jahrhunderten, wenngleich meist nur von kurzer Dauer.

Doch springen wir in die Gegenwart.

Eine große Menschenmenge hat sich unter freiem Himmel versammelt, die meisten Teilnehmenden sind männlich gelesene Personen. Sie strecken ihre Hände nach oben, um einen bunten Ball zu fangen, der sich in der Luft befindet. Der Ball zeigt die britische Flagge. Auf einem erhöhten, gemauerten Podest stehen mehrere Personen in Anzügen und Mänteln, einer von ihnen hat den Ball gerade in die Menge geworfen. Eine britische Flagge weht über ihnen. Im Hintergrund sind Bäume und Zuschauer*innen zu sehen.
Mit dem Wurf des Balles vom „Plinth“ in die Menge beginnt das traditionelle Shrovetide-Football-Spiel in Ashbourne – ein jahrhundertealtes Spektakel, das die ganze Stadt in Atem hält. Der pensionierte Feuerwehrmann Stuart Lee durfte 2014 diese Ehre übernehmen. IMAGO/ZUMA Press

Rituale vor dem Spiel

Vor Spielbeginn versammeln sich die Teilnehmenden in einem Ashbourner Hotel zu einem feierlichen Pre-Game-Lunch, bei dem traditionell die 1891 komponierte Shrovetide-Hymne gesungen wird. Ursprünglich entstand sie für ein Benefizkonzert, das Gelder zur Reparatur der durch das Spiel verursachten Straßenschäden sammeln sollte.

Anschließend wird eine jährlich wechselnde Würdenperson – meist eine lokale Persönlichkeit, gelegentlich ein*e überregional bekannte*r Prominente*r, ein*e Politiker*in oder gar ein Mitglied des Königshauses – feierlich durch die Straßen getragen. Diese Person, die später den Spielball einwerfen wird, geht den „Plinth“ hinauf, einen steinernen Sockel im Zentrum des Ortes. Auf dem Platz unter ihr versammelt sich die Menge, um vor Spielbeginn gemeinsam „Auld Lang Syne“ und „God Save the King“ zu singen.

Und dann beginnt das Spiel mit dem Einwerfen des speziell gefertigten und angemalten Balles in das Bad der Menge. In diesem Moment formiert sich der „Hug“ – eine dichte Menschentraube von etwa 20 Spieler*innen, die um den Ball kämpfen und sich gemeinsam durch die Straßen bewegen. Die „Kerne“ der beiden Teams befinden sich innerhalb dieses Gedränges, während außerhalb vereinzelte Spieler*innen stehen, um den Ball zu fangen, wenn dieser aus dem „Hug“ herausgeschlagen wird. Am Rande stehen Personen, die sich vorwiegend oder ausschließlich nicht am Spiel beteiligen möchten, sondern Zuschauende während des gesamten Spiels bleiben.

Vor dem Haus kämpfen männlich gelesene Personen um den Shrovetide-Fußball und stehen teilweise auf Pflanzenkübeln. Im Haus schauen vor allem weiblich gelesene Personen am Fenster zu,. Viele haben gerade ihre Handys rausgeholt, um zu filmen. Sie finden es total spannend.
Vor dem Haus kämpfen männlich gelesene Personen um den Shrovetide-Fußball und stehen teilweise auf Pflanzenkübeln. Im Haus schauen vor allem weiblich gelesene Personen am Fenster zu, viele haben gerade ihre Handys rausgeholt, um zu filmen. Sie finden es total spannend. IMAGO/Sportimage

Dabei sind folgende Regeln zu beachten: Es ist nicht erlaubt, den Ball in Taschen oder Rucksäcken zu verstecken oder ihn mit motorisierten Fahrzeugen zu transportieren. Das Durchqueren von Privatbesitz ist untersagt, und der Ball darf nicht auf Friedhöfen, Gräbern oder Gedenkstätten gespielt werden. Während unnötige Gewalt verpönt ist, gibt es keine strikte Regel, die körperliche Auseinandersetzungen ausdrücklich verbietet, ist nur Mord und Totschlag tatsächlich verboten.

So läuft der Shrovetide Football in Ashbourne ab

Eine besondere Taktik ist das sogenannte „River Play“, bei dem der Ball bewusst ins Wasser manövriert wird – sei es getragen oder geworfen-, um sich dort außerhalb des Hug fortzubewegen. Der Ball selbst ist größer als ein normaler Fußball und mit portugiesischem Kork gefüllt, sodass er im Fluss schwimmt. Er wird eigens von lokalen Handwerksbetrieben gefertigt und kunstvoll bemalt, wobei das Design stets die Wünsche der einwerfenden Würdenperson, die englische Flagge sowie die königliche Krone integriert.

Das Spielfeld besitzt keine festgelegten Grenzen, erstreckt sich über eine Länge von etwa drei Meilen (ca. 4,8 km), nämlich entlang des Flusses Henmore. Die Teilnehmer*innen werden nach ihrer Herkunft in zwei Mannschaften unterteilt: Die „Up’ards“, die nördlich des Flusses geboren wurden, und die „Down’ards“, die südlich davon stammen. Ziel des Spiels ist es, den Ball in das jeweilige Tor des eigenen Teams zu befördern – für die Up’ards befindet sich dieses an der Sturston Mill, für die Down’ards an der Clifton Mill – man muss also unbedingt in den Fluss, um die Tore zu erreichen.

Ein Tor wird nur dann als gültig gewertet, wenn der Ball dreimal hintereinander die dort befindliche Steinpyramide berührt. Das macht aber nicht die erstbeste Person, sondern obliegt einer verdienstvolle Person, die in diesem Moment zum Tor durchgelassen wird, um den zeremoniellen Akt auszuführen.

Eine große Gruppe von Männern spielt ein intensives Ballspiel in einem kalten, trüben Fluss. Die Spieler tragen nasse Sportkleidung und ringen im Wasser um den Ball, während weitere Teilnehmer vom Ufer aus zuschauen oder ins Wasser drängen. Ein Mann in schwarzer Kleidung hält den Ball über dem Kopf, während andere versuchen, ihn zu erreichen. Die Szene wirkt chaotisch und energiegeladen, mit spritzendem Wasser und konzentrierten, teils angespannten Gesichtsausdrücken. Die Zuschauer am Rand tragen meist dunkle Kleidung, einige haben Sporttrikots an. Die Atmosphäre ist rau und erinnert an eine traditionelle, körperbetonte Sportveranstaltung im Freien.
Beim traditionellen „Shrovetide Football“ in Ashbourne treiben die Teilnehmenden den Ball durch das eiskalte Wasser in Richtung eines der historischen Mühlstein-Tore. IMAGO/Sportimage

Wird ein Tor vor 17.00 Uhr erzielt, wird sofort ein neuer Ball ins Spiel gebracht. Falls bis zu diesem Zeitpunkt kein Treffer gefallen ist, wird so lange weitergespielt, bis entweder ein Tor erzielt oder bis 22.00 Uhr. Dann ist allerdings noch nicht Schluss, denn gespielt wird am Dienstag und Mittwoch, jeweils von 14.00 Uhr bis 22.00 Uhr.

Falls kein Tor erzielt wurde, fällt der Ball als Erinnerungsstück an den*die Einwerfer*in zurück und wird neu bemalt. Gelingt ein Treffer, darf der*die Torschütz*in den Ball behalten, wobei anschließend mit Ball mit dem Namen und einem individuellen Design versehen wird. In jedem Fall wird der Ball nach dem Spiel restauriert, da er durch das Spiel stark abgenutzt wird.

Wandel und Beständigkeit

Über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hat sich nicht viel getan. Zu den Veränderungen gehört sie Verkürzung der Spielzeit von Mitternacht auf 22 Uhr (1967) und das Verlegen des Einwurfsorts vom Marktplatz zum Plinth (1862). Die mitunter größte Veränderung sind die Tore, wenngleich sich ihr Ort über die Jahrhunderte nicht verändert hat. Die heutigen Steinpyramiden stehen, wie „Sturston Mill“ und „Clifton Mill“ nahegelegen, anstelle von zweier abgerissener Mühlsteine.

Was bleibt, sind die Forderungen, Shrovetide Football auf Grund seiner, euphemistisch gesagt, körperbetonten Spielweise zu verbieten. Wie im mittelalterlichen Fußballspiel gibt es in Ashbourne keine*n Schiedsrichter*in. Jedes Jahr gibt es mindestens geprellte Rippen, verstauchte Knöchel und gebrochene Knochen. Verletzungen werden als Kollateralschaden der jahrhundertealten Spielkultur hingenommen und als Handeln im Affekt begründet. Auf der anderen Seite wird auf den Respekt vor Privatbesitz sehr sorgsam geachtet und jährlich erinnert. So gehört der Royal Shrovetide Football zu den alten Fußballspielarten, die nicht verboten wurden.

Man erkennt leicht unscharf eine Menschentraube, aus der sich sieben Personen erheben, weil sie von anderen gestützt werden. Sowohl die Menschen in der Traube als auch die leicht erhobenen Personen versuchen einen blau-grünen Ball mit einem gemalten Bild mit den Händen zu berühren
Die „Hug“ im Royal Shrovetide Football in Aktion – hier am 5. März 2014. Die beiden Gruppen versuchen, den Ball entweder unter Kontrolle zu bekommen oder ihn aus dem Hug herauszuschlagen. IMAGO/ZUMA Press

Shrovetide Football & Frauen

Es gab auch im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte schon wiederholt den Wunsch, den Royal Shrovetide Football zu verbieten oder zumindest zu torpedieren. Dass der Torpedierungsversuch 1860 fehlschlug, lag an Mrs. Elizabeth Woolley, die den Spielball im entscheidenden Moment unter ihrem Rock versteckte. Und wo wir bei Frauen sind: Natürlich nahmen und nehmen nicht nur Männer am Shrovetide Football teil, wenngleich sie auf Grund der Spielweise in der deutlichen Mehrzahl sind. In den neueren Aufzeichnungen sind mit Doris Mugglestone, Doris Sowter (beide 1943) und Nora Wibberley (1957) drei Torschützinnen bekannt, also für das dreimalige Anstoßen an die Steinpyramide ausgewählt worden.

Einer anderen Frau, Princess Mary, verdankt es Ashbourne, dass ihr Spiel gegenüber anderen noch ausgeübten alten Fußballspielen das Prädikat Königlich erhielt. Für diejenigen mit Interesse am englischen Königshof: Sie war väterlichseits die Urenkelin von Queen Victoria und außerdem die Tante von Queen Elizabeth II. 

Sie heiratete an Shrove Tuesday 1922 Henry Lascelles, einen späteren Earl of Harewoord, und erhielt als Hochzeitspräsent aus Ashbourne einen Shrovetide Football mit ihrem Porträt bemalt geschenkt. Das rührte die Prinzessin und deshalb vermachte dem Spiel die königliche Schirmherrschaft. Und deshalb agierten mit König Edward VIII (Marys Bruder) und König Charles III 1928 bzw. 2003 zwei Mitglieder des Königshauses als Einwerfer. Kleiner Zusatz am Rande: Die beiden Herren waren damals noch keine Könige, sondern Prince of Wales.

Ein besonderes Spiel

Im Gegensatz zum durchreglementierten Fußballspiel, das wir heute kennen, erinnert Shrovetide Football in mancher Hinsicht an Bolzplatz-Fußball. Er strahlt eine ungezwungene Ursprünglichkeit aus, die mit der Kraft der Gemeinschaft einhergeht – sei es durch den solidarischen Zusammenhalt (wie das Benefizkonzert von 1891 zeigt) oder durch eine Demokratisierung des Spiels, da es keinerlei Begrenzung der Teilnehmer*innenzahl gibt.

Doch dieser Geist steht in Spannung zu einer anderen Seite des Spiels: der körperbetonte Wettkampfmentalität und ihre oft schweren Verletzungen, die mit dem Verweis auf eine jahrhundertealte Spielkultur rechtfertigt werden. Eine Tradition, die zugleich fasziniert und befremdet. Man möchte die Gemeinschaft feiern – wenn sie nicht so oft auf Kosten Einzelner ginge.

Wer sich das ganze bildhaft ansehen möchte, muss nicht nach Ashbourne reisen. Hier ist eine Aufnahme des Shrovetide Football von 2024.

Beitragsbild: IMAGO/ZUMA Press

Written by 

Petra Tabarelli ist Fußballhistorikerin und -journalistin. Die Spezialistin für die Entwicklung der Fußballregeln schreibt für die DFB-Schiedsrichter-Zeitung, ist als Expertin im Deutschlandfunk zu hören und hat als Beraterin fürs IFAB gearbeitet. Tabarelli ist Mitglied des prämierten Kollektivs „FRÜF“ und setzt sich in der web.de-Kolumne für eine stärkere Präsenz und Förderung von Schiedsrichterinnen im Fußball der Männer ein. 2023 wurde sie zum Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur ernannt. Zudem hat die Expertin die erste Biografie über den zu Lebzeiten sehr bekannten Simon Rosenberger geschrieben, einen jüdischen Fußball-Pionier und Begründer der DFB-Schiedsrichter-Zeitung, der zuvor aus der Geschichte getilgt worden war.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert