
Die Ursprünge der Abseitsregel
Man kann gut und gerne sagen: Die Abseitsregel gibt es, seit es Fußball gibt. Betrachtet man die Formen des Fußballspiels vor dem 19. Jahrhundert, so ist dies freilich nur die halbe Wahrheit. Aber in den stark reglementierten Regelwerken der britischen Privatschulen gab es schon immer eine Abseitsregel. Sie sollte das reine Kick‘n‘Rush und das „Herumlungern“ in Tornähe verhindern. In Teil 1 zur Jubiläumsserie zur Abseitsregel geht es zurück zu ihrem Ursprung – und den Ursprüngen der Fußballspielarten.
Der stärker reglementierte Fußball wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von der britischen Oberschicht entwickelt. Mit Fußball und anderen Spielen sollten die Schüler der Privatschulen (public schools) spielerisch zu Gentlemen erzogen werden und sich darüber hinaus körperlich fit halten. „Mens sana in corpore sano“ – „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“. In Verbindung mit dem christlichen Sendungsbewusstsein dieser Zeit bedeutet es: Sport ist ein Dienst an Gott. Sport sorgt dafür, dass die Hülle (der Körper), in der Gott wohnt, gesund und wohlbehalten bleibt und so lange das Wort Gottes verkündet und gute Taten vollbracht werden können. (Aus diesem Gedanken heraus entstand einige Jahrzehnte später die CMYA-Bewegung).
Ein Wettbewerb waren damals weder football noch andere sports. Es war einfach eine schulinterne Erziehung mit Gamification. Deshalb war es auch kein Problem, dass jede Schule ihre eigenen Regeln hatte. Regeln, die heute eher an Rugby als an das uns bekannte Fußballspiel erinnern, weil man bei dieser Spielart in idealer Weise zu einem Gentleman werden konnte. Und der Begriff football war zunächst nicht standardisiert und fasste alle Spielarten zusammen, bei denen ein Ball auch mit dem Fuß gespielt wurde.
Fußball als Spiegel der britischen Gesellschaft
Es war auch ein sehr elitäres Spiel. Bis in die 1860er Jahre sahen fast alle Regelwerke vor, dass sich alle Spieler zwischen dem Ball und dem gegnerischen Tor abseits des Feldes waren. (Ich verwende hier die männliche Form, weil Frauen in diesen elitären Institutionen nicht zugelassen waren.) Durch diese sehr strenge Abseitsregel war Kombinationsfußball nicht möglich. Vielmehr gab es einen Spieler, der den Ball hatte, und alle anderen formierten sich wie ein Dreieck hinter dem Ballführenden an der Spitze, um den Ball zu sichern, falls der Ballführende ihn verlieren sollte. Oder anders formuliert: Einer führt und entscheidet, alle anderen assistieren ihm. Auch das sollten die Jungs in den Privatschulen lernen: Kenne deinen Platz in der Gesellschaft.
Aber es gab natürlich auch Ausnahmen. Das war in den 1840er Jahren (und vielleicht schon früher) das Eton College mit seinem Dreier-Abseits:„‚Sneaking’ is when the attacking player is between the ball and the opposing goal and there are three or fewer opponents in front of him.“ Sneaking – anschleichend, also heimlich zum Tor schleichen und dort auf den langen Ball warten – war das Eton-Wort für Abseits.
Warum gab es in Eton im Gegensatz zu anderen Privatschulen diese andere Variante des Abseits? War es eine besonders fortschrittliche Privatschule? Nun, das weniger. Vielmehr ging es darum, sich von der Rugbyschule und ihren Regeln abzugrenzen, mit der man im Clinch lag. Und da die football-Regeln der Rugby School ein striktes Abseits vorschrieben, machte man es in Eton bewusst anders.
Neue Regelwerke, altes Abseits
Um die Jahrhundertmitte entwickelte sich der football. Die Schüler waren nun an der Universität und wollten ihre geliebten sports weiter ausüben. Das Problem war nur: Sie kamen von verschiedenen Schulen und ihre Regeln unterschieden sich voneinander. Die Cambridge University Rules waren vermutlich das erste Regelwerk, das aus einer Mischung verschiedener Regelwerke entstand.
Einige Jahre später waren aus den Studenten gestandene Gentlemen geworden, die ihre sports in Clubs ausübten. Cricket und football waren eng miteinander verbunden: Cricket war das Sommerspiel, football das Winterspiel (vermutlich war das auch an den Privatschulen so). Aber das Problem der unterschiedlichen Regelwerke – je nach Schule, Universität, Verein – blieb bestehen. So gründeten einige Londoner Gentlemen einen Fußballverband – Football Association, kurz FA. Natürlich wieder mit eigenen Regeln, die nun für alle Mitgliedsvereine galten. Und diese Mitgliedsvereine waren natürlich von Gentlemen geführte Vereine… man wollte ja unter seinesgleichen bleiben. Die Abseitsregel lautete also, wie in fast allen Privatschulen üblich, striktes Abseits. So wie es auch in der Gesellschaft gelebt wurde: Ein Mann führt, alle anderen Männer auf seiner Seite laufen hinterher und assistieren.
Aber das war nicht überall in England so, nicht einmal in Großbritannien. Andere Vereine, wie der 1858 gegründete Sheffield FC im Nordosten Englands, gehörten nicht der Football Association an. Dennoch – oder gerade deshalb – lief dieser Verein und die 1867 gegründete Sheffield FA in den 1860er und 1870er Jahren den Londoner Gentlemen völlig den Rang ab – auch dank einer anderen Abseitsregel.
Mehr dazu im nächsten Teil unserer Serie.
Fotos in der Collage im Beitragsbild:
IMAGO/TopFoto. PALT Dartford gegen Arsenal Reserves 04.02.1939 – Southern League. Arsenal erzielt ein Tor, aber es wird auf Abseits entschieden.
IMAGO/Sven Simon. Italiens Franco Baresi (links) reklamiert eine Abseitsstellung von Ľubomír Moravčík (rechts, CSFR), denn Giuseppe Bergomi kommt gegen ihn zu spät. Fußball-WM der Männer 1990.
IMAGO/Noah Wedel. Linienrichter Adam Nunn beim Champions League Halbfinale der Männer zwischen dem BVB und PSG am 01.05.2024.