Türchen 19: Die Queen des „Parc des Princes“
Mit der Nationalelf gewinnt sie im Sommer die Bronzemedaille, bei der SGE hat sie im März ihren Vertrag verlängert und im Modemanagement-Studium verwirklicht sie Träume neben dem Platz: Für Nicole Anyomi läuft es gerade sehr gut. Warum wir hinter Türchen 19 dennoch über Rassismus im Fußball reden müssen.
Ein Fußballmoment des Jahres, der sich mir extrem eingebrannt hat, ist die Verleihung der Bronzemedaillen an die deutschen Fußballerinnen. Und das in doppeltem Sinne: Es war im Jahr nach dem Vorrundenaus bei der WM in Australien und Neuseeland so etwas wie eine Versöhnung des Teams mit sich selbst, den Fans und den hierzulande immer extrem hohen Ansprüchen. Da war plötzlich eine Leichtigkeit, die zuvor verloren schien. Das aus der Ferne mitzuerleben, war sehr schön. Einerseits.
Unter falschem Namen gefeiert
Andererseits gab es den Moment, in dem Nicole Anyomi das Lächeln sprichwörtlich aus dem Gesicht fiel. Dann nämlich, als sie über die Stadionlautsprecher „Pia-Sophie Wolter“ genannt wurde. Erster Gedanke, schaut denn da bitte niemand mehr drauf? Zweiter Gedanke, wieso passiert das ausgerechnet einer Schwarzen Spielerin? Dritter Gedanke, wie beschissen muss sich das in diesem einmaligen Moment anfühlen … Was geht ihr da wohl durch den Kopf?
Im Podcast haben wir seinerzeit nur halb im Scherz die Umbenennung des „Parc des Princes“ in „Parc de Nicole Anyomi“ gefordert. Das Geschehnis wirft aber Fragen auf, die über diesen Moment in Paris hinausgehen. Dazu gehört zu allererst die, wie es eigentlich sein kann, dass Anyomi abgesehen von der kürzlich debütierenden Cora Zicai derzeit die einzige BiPoC-Spielerin in der deutschen Nationalelf ist? Und warum ist diese Quote seit Jahren bei den Frauen deutlich unter jener bei den Männern?
Die Verknüpfung der 24-Jährigen mit diesen Fragestellungen lenkt zugleich den Blick auf eine Problematik: Wie über gesellschaftliche Mechanismen sprechen, die marginalisierte Gruppen betreffen, ohne diese an und mit den Betroffenen quasi exemplarisch abzuarbeiten? Schließlich ist Anyomi Sportlerin – das ist denn auch das Thema, über das geschrieben und gesprochen werden sollte, wenn ihr Name fällt.
Bei der SGS Essen in die Bundesliga
Geboren wird Anyomi am 10. Februar 2000 in Krefeld. Sie wächst mit zwei Brüdern auf und erzählt in Interviews häufig, wie sie über die beiden zum Fußball gekommen ist. Ihre Mutter habe anfangs versucht, sie zu einem anderen Sport zu bewegen, aber keine Chance: Schon als Kind war Anyomi nicht vom Ball zu trennen. Nach frühen Stationen beim SuS Krefeld und Borussia Mönchengladbach wechselt die Offensivspielerin mit 14 Jahren zur SGS Essen, wo sie bereits als Teenagerin von der Juniorinnen- zur Bundesligaspielerin reift.
In Erinnerung bleiben aus der Zeit in Essen auch zwei Szenen aus der Pokalsaison 2019/20. Als Anyomi im Viertelfinale gegen Potsdam ein Tor schießt, jubelt sie nicht, sondern geht aus Respekt vor dem im Mai desselben Jahres getöteten US-Amerikaners George Floyd auf die Knie. Später sagt sie über diese Szene, mit der sie auch auf „Black Lives Matter“ aufmerksam machen wollte: „So etwas plane ich nicht. Das kam einfach aus mir heraus, weil ich schon so viel erlebt habe.“ Anyomi ist da 20 Jahre.
Im ereignisreichen Pokalfinale gegen Wolfsburg hat die Stürmerin im Juli 2020 selbst eine frühe Torchance, in der zweiten Hälfte aber geht sie nach einem heftigen Zusammenstoß mit Alexandra Popp in der Luft ungebremst zu Boden. Im Corona-bedingt menschenleeren Stadion ist Anyomis Schrei deutlich zu hören und letztlich geht es nicht weiter für die Offensivspielerin. Diagnose: Steißbeinbruch.
Othering: TV-Kommentar aus der Hölle
Wer heute noch mal in das Spiel reinschaut, grämt sich nicht nur angesichts der schweren Verletzung, sondern auch angesichts dessen, was im Kommentar gesagt wird. Oder wären Herkunft von Mutter und Vater relevant, wenn nach dem Zusammenstoß nicht Anyomi liegengeblieben wäre, sondern Gegenspielerin Popp? Anschließend ist die Rede von den „schwarzen Rastazöpfen“, die „fast den Boden berühren“ und als die Spielerin neben dem Platz sitzend eingeblendet wird, kommt der Hinweis, sie sei eine „Woman of Color“.
Man spricht bei dieser permanenten Betonung von Unterschieden auch von „Othering“ – und es ist eben nicht zutreffend, dass da noch nichts dabei sei: Schließlich hat die Spielerin doch schwarze Haare, ihre Eltern kommen nun mal aus Togo und Ghana und eine Woman of Color ist sie auch. Aber betont werden solche Punkte eben mit einem Blick auf eine empfundene Andersartigkeit. Die muss nicht zwingend abwertend gemeint sein, ist aber definitiv trennend. Und genau das ist ein Problem.
Den Titel kann die SGS Essen in jenem Finale nicht erkämpfen, der Pokal geht an die ewigen Champions aus Wolfsburg. Anyomi aber hat da schon eine Trophäe im Schrank: Mit der U17 ist sie Europameisterin geworden. Von 2014 bis 2019 durchläuft die Krefelderin alle Juniorinnenteams. Nach 55 Partien und 33 Toren steht sie im Februar 2021 erstmals für die A-Nationalelf auf dem Feld: Gegen Belgien wird sie für Klara Bühl eingewechselt.
Rassismus ist eine Lebensrealität
Im April desselben Jahres erscheint der Film „Schwarzer Adler“, über ehemalige Schwarze Spieler*innen der Nationalteams sowie Bundesligen und ihre Rassismuserfahrungen auf und neben dem Platz. Die Doku ist so wichtig wie schmerzhaft, da die Betroffenen sich einlassen darauf, von ihren schlimmen Erlebnissen zu erzählen – und sie teilweise auch durch alte TV-Beiträge noch einmal nachzuerleben.
Der Bundesadler auf den Trikots mag schwarz sein, aber Schwarze Spieler*innen will manch deutscher Fan nicht in Reihen des Nationalteams sehen. Welche traumatischen, schlimmen Erfahrungen die Sportler*innen dabei machen, für ihr Land zu spielen, kann jedem Menschen mit Herz und Empathie nur unfassbar erscheinen. Aber es ist bitterer Teil von Lebensrealitäten, auch heute.
Im selben Sommer wechselt Anyomi von Essen an den Main zu Eintracht Frankfurt. Ihre Dankbarkeit für den familiären Ausbildungsverein vermittelt sie in dieser Phase absolut authentisch, gleichzeitig wirkt das weltoffene Frankfurt wie eine Befreiung für die junge Spielerin. Bei der EM in England gehört Anyomi 2022 zum Kader und erzielt im dritten Gruppenspiel gegen Finnland ihr erstes A-Länderspieltor. Im Finale wird die Stürmerin eingewechselt, kann ihre Stärken aber nicht ausspielen.
Noch im Stadion sieht Anyomi, die ihre Reichweite zu diesem Zeitpunkt bereits regelmäßig und wie selbstverständlich für Statements gegen Rassismus nutzt, dass dieser sie gerade wieder selbst mit voller Härte trifft: Die Zuschriften, die sie erhält, sind derart übel, dass sie die Kommentarfunktion auf Instagram vorübergehend deaktiviert. Gleichzeitig entscheidet sie sich, offen über die Attacken zu sprechen.
Der Kampf braucht Mitstreiterinnen
Der Mechanismus, die redegewandte Stürmerin zu diesen Themen zu befragen, greift derweil auch deswegen immer mehr, weil sie bereit ist, sich dazu zu verhalten. Dazu mag Anyomis Überzeugung beitragen, dass ihre Reichweite Privileg und Verpflichtung gleichermaßen ist. Das sollte aber nicht dazu führen, diese Bereitschaft als selbstverständlich zu erachten, denn sie ist alles andere als das.
Und es ist wichtig, dass die Themen nicht bei Anyomi verbleiben, dass ihre Mitspielerinnen die Verantwortung annehmen, sie mitzutragen und sich ebenfalls einzusetzen und zu positionieren. Gerade in Frankfurt klappt das schon nicht schlecht. Nur, wenn sie in diesem Kampf ebenso Mitstreiterinnen hat, wie auf dem Platz, kann die schnelle Offensivspielerin sich auf das konzentrieren, worum es eigentlich gehen soll: ihr Spiel.
In dem sie es im bisherigen Verlauf dieser Saison bereits wieder auf beeindruckende Statistiken bringt: In der Liga ist die Frankfurterin die Nummer 1 bei Toren und Assists pro 90 Minuten (ohne Elfmeter) und auf Platz 6 bei den Aktionen, die zu Torchancen führen. Zusammen mit Superjoker Remina Chiba ist die spielintelligente Stürmerin außerdem diejenige, die am wenigsten Schüsse pro Tor braucht. Die Verantwortlichen bei der Eintracht sind sich denn auch sehr bewusst, was sie an ihrer dynamischen Spielerin haben: Bereits im März haben sich beide Seiten auf eine Vertragsverlängerung bis 2026 geeinigt.
„Ich fühle mich sehr wohl und weiß zu schätzen, was ich hier habe“, betont die Spielerin im Frühjahr in der Vereinsmitteilung. Und: „Wenn ich Vertrauen spüre, kann ich auch mein Spiel zeigen und gut performen.“ Manch eine*r will aus den Worten damals auch einen Seitenhieb auf den DFB lesen, wo Anyomi seinerzeit außen vor ist.
Tatsächlich taucht sie in Hrubeschs Kader für Olympia nur auf der Liste der Nachrückerinnen auf. Nach der Verletzung von Alexandra Popp steht Anyomi im Halbfinale in der Startelf gegen die USA, kann ihre Stärken in der komplizierten Partie aber nicht in die Waagschale werfen. Wohin die Reise unter dem neuen Bundestrainer Christian Wück gehen wird, lässt sich derzeit noch nicht sagen.
Ihre starke Hinrunde in Frankfurt, mit der sie deutlichen Anteil hat an der gar nicht mal so überraschenden Winter-Meisterinnenschaft der SGE, ist ein klarer Hinweis darauf, wie viel Wahrheit in ihren Worten liegt, wonach Vertrauen sie beflügele. Fürs Nationalteam könnte sie so auf jeden Fall ebenso zu einem noch viel größeren Gewinn werden.
Menschlich und in Sachen Haltung ist sie das ohnehin, egal in welchem Trikot. Dabei darf ruhig daran erinnert werden, dass Anyomi im Februar gerade mal 24 Jahre alt geworden ist. Ihre Qualitäten waren nicht nur auf dem Platz sehr früh deutlich zu sehen, sondern auch daneben. Es liegt in der Verantwortung von Verband und Verein, sie zu stärken und zu unterstützen.
Und in der Verantwortung der Medien, ihr Raum zu geben für Themen, über die sie sprechen möchte – ohne sie darauf zu reduzieren. Denn Anyomi ist neben allem anderen eben einfach eine verdammt gute Spielerin. Und sie bleibt Queen des „Parc des Princes“.
Beitragsbild: IMAGO/Eibner
@news TIL Othering