Türchen 15: Ann-Katrin Bergers Realität schlägt alle Märchen
Als zweite Torhüterin überhaupt wird Ann-Katrin Berger in diesem Jahr Deutschlands Fußballerin des Jahres. Bei der Fanwahl zur Nationalspielerin des Jahres landet sie hinter Giulia Gwinn auf Platz 2. Es ist, hochverdient, der späte Triumph einer sehr erfolgreichen Vereinsspielerin auch in der Nationalelf.
Als Silke Rottenberg 1998 vom kicker zur Fußballerin des Jahres gekrönt wird, ist Ann-Katrin Berger acht Jahre alt und spielt bei der KSG Eislingen. Seit 1996 zeichnet das Sportmagazin neben dem Fußballer des Jahres auch die Fußballerin aus, Rottenberg ist die erste Keeperin, der die Ehre zuteilwird. Und bleibt damit für 26 Jahre auch die Einzige – bis Berger in diesem Jahr die Trophäe holt.
In Paris die Bronzemedaille festgehalten
Die in Göppingen geborene Torhüterin ist spätestens nach dem Olympischen Turnier im Sommer, bei dem sie die Bronzemedaille für ihr Team festhält – oder den Elfmeterschuss, der den Traum ins Wanken gebracht hätte – die logische Wahl. Und das, obwohl derartige Auszeichnungen deutlich seltener an Torleute gehen.
Bis zu diesem Triumph im Nationalteam ist es ein langer Weg für Berger. Und einer, von dem sie selbst vor knapp zehn Jahren weder annimmt, noch hofft, er würde sie ins deutsche Tor führen. Als Deutschland bei der WM 2015 in Kanada antritt, erklärt die Keeperin auf Heimaturlaub im Interview: „Nationalspielerin zu sein, wäre nicht mein Ding. Man wäre als Spielerin dann ja ständig unterwegs und hätte noch viel weniger Freizeit als ein Vereinsprofi.“
Damals träumt Berger nach der ersten Saison in Frankreich davon, bei Paris Saint-Germain unumstrittene Nummer 1 zu werden. Eine Position, um die sie zuvor auch in Potsdam hatte kämpfen müssen. Es sind Jahre, die Berger rückblickend vorbereitet haben auf ihre Rolle als Herausforderin ums Nationaltor. Dort kommt sie im Dezember 2020 unter Martina Voss-Tecklenburg gegen Irland als viertälteste Debütantin zu ihrem ersten Spiel. Bis dahin hat die Keeperin lediglich einen Einsatz in der deutschen U19 auf dem Konto.
Spätes DFB-Debüt und Titel im Vereinsfußball
Im Verein hat ihr Weg von Paris über Birmingham City LFC zu den Chelsea FC Women geführt, wo sie nach dem Weggang von Hedvig Lindahl Stammtorhüterin wird. Mit den Chelsea Women holt die Deutsche ab 2020 viermal in Folge die Meisterinnenschaft, einen Titel, den sie bereits mit Turbine in der Bundesliga auf ihr Konto gepackt hatte. Ihre Qualitäten als Elfmeterkillerin stellt sie bei den Londonerinnen ebenfalls erneut unter Beweis. Zudem wird sie bei der Wahl zur FIFA-Welttorhüterin des Jahres 2021 und 2022 Dritte.
Doch in der Saison 2023/24 steht Berger in England nicht mehr regelmäßig zwischen den Pfosten. Inzwischen ist Horst Hrubesch zum zweiten Mal Interimstrainer der DFB-Frauen und erzählt bei der Kader-PK für die Qualifikation zur EM 2025 in der Schweiz von Schwierigkeiten zwischen der Keeperin und Trainerin Emma Hayes. Deren Loblieder auf ihre Torhüterin und speziell Bergers Paraden in Sachen Elfmetern erklingen bereits seit dem Winter 2023 nicht mehr.
Bruch mit Hayes? Abschied von Chelsea!
Als Hayes sich zudem kritisch über Liebesbeziehungen zwischen Spielerinnen äußert, scheint das Fass übergelaufen. Eigentlich war die Trainerin aus aktuellem Anlass angesprochen worden auf problematische Beziehungen zwischen Coaches und Spielerinnen, hatte es aber von sich aus auf Sportlerinnen innerhalb eines Teams ausgeweitet. Später rudert Hayes teilweise zurück, Berger und ihre damalige Freundin und mittlerweile Verlobte Jessica Carter, die seinerzeit beide für die Blues spielen, hatte sie spätestens da aber offensichtlich verloren.
Im April wechselt Berger zu NJ/NY Gotham FC, wird Stammtorhüterin und eine der stärksten Keeperinnen der Liga. Im Sommer folgt Carter ins NWSL-Team. Während des Olympischen Fußballturniers feiert die englische Nationalspielerin ihre Verlobte extrem berührend über die Sozialen Netzwerke. Denn Berger ist unter Hrubesch, der auf ihre Erfahrung und ihre ruhige Ausstrahlung setzt, inzwischen zur späten Nummer 1 avanciert.
Für viele Fußballinteressierte, die sich vor allem mit der Bundesliga beschäftigen, kommt das einer Schockwelle gleich. Wer Merle Frohms seit Jahren jedes Wochenende spielen sieht, mag an der Entscheidung des Trainers zu knabbern haben, aber Bergers Nominierung ist hochverdient: Sie ist zum damaligen Zeitpunkt die beste Keeperin sowie im Gesamtpaket die beste Wahl. Und wird im Turnierverlauf zur Heldin.
Elfmeterheldin beim Olympischen Turnier
Im Viertelfinale gegen Kanada pariert Berger im Elfmeterschießen zweimal stark und verwandelt danach den letzten deutschen Elfmeter selbst. Damit nicht genug, behält sie im Spiel um Platz 3 gegen Spanien bis zur letzten Sekunde die Nerven und hält in der 9. Minute der Nachspielzeit einen Strafstoß – und damit eben die Bronzemedaille für ihr Team fest. Was zurückführt zum Beginn dieses Textes: Ann-Katrin Berger ist die logische und hochverdiente Fußballerin des Jahres.
Der späte Triumph im Nationalteam wird seither gern als Märchen betitelt, aber eigentlich ist er etwas viel Schöneres als das, nämlich hart erkämpfte Realität. Berger hat als Feldspielerin angefangen und sich quasi über den Platz bis hinter ins Tor bewegt mit den Jahren, sie hat das Nationalteam lange gerne beobachtet, ohne sich damit zu beschäftigen, Teil davon sein zu wollen. Und sie hat es letztlich bis zur Nummer 1 und dieser Medaille geschafft.
Offener Umgang mit Schilddrüsenkrebs
Das alles hat einen besonderen Wert auch durch die Krankenakte der 34-Jährigen, bei der während ihrer Zeit bei den Birmingham City Ladies im November 2017 Schilddrüsenkrebs diagnostiziert wird. Die Torhüterin wird operiert und sagt später über jene Zeit, in der ihr das Gefühl rund um die Narbe am Hals fehlt: „Du weißt, dass ein Kopf dran ist, aber du weißt nicht, ob er abfällt oder nicht.“ Nach einer Radiojodtherapie kehrt sie 2018 auf den Platz zurück. Bei den regelmäßigen Kontrollen stellen die Ärzt*innen 2022 fest: Der Krebs ist zurück.
Es läuft die sensationelle EM in England, Berger bleibt beim Team und weiht lediglich ihre Trainerin ein. Nur fünf Wochen nach der abermaligen Radiojodtherapie kehrt sie ins Training zurück. Über den Krebs sagt die Keeperin, sie sei diesen Kampf wie ein Spiel angegangen, das sie gewinnen wolle, und habe sich an die Behandlungsregeln wie an einen Trainingsplan gehalten. Der Sport gibt ihr Leitplanken in dieser komplizierten Zeit – und privat wird sie aufgefangen.
Zugleich entscheidet sie sich, offen mit der Situation umzugehen, auch, um anderen in einer solchen Situation Mut zu machen. Das kann man der Keeperin nicht hoch genug anrechnen. Die Krankheit ist ein Teil ihrer Geschichte. Aber sie definiert Berger nicht – und auch nicht ihren Erfolg als Spielerin.
Schlagzeilen wie „Von der Krebspatientin zur Medaillensiegerin“ mögen zwar in Sachen Klickzahlen reizvoll erscheinen, ein weniger sensationsheischender Umgang mit dem Thema wäre aber wünschenswert. Bergers Weg hat zudem ausreichend sportliche Meilensteine, die viel zu oft unter den Tisch fallen. Sie sind es wert, erzählt zu werden.
Beitragsbild: IMAGO/Eibner