Naomi Girma im blauen Trikot des US-Nationalteams von der Brust aufwärts in der Sonne stehend während der Nationalhymne, sie schaut entschlossen und lächelt leicht.

Türchen 1: Naomi Girma – Kopf, Herz, Raum

Das erste Bolztribüne-Adventskalender-Türchen gilt Naomi Girma. Die besten Defensiv-Spieler*innen der Welt sind diejenigen, die man während einer Partie zwischendurch fast schon vergisst, weil sie Situationen auflösen, bevor sie überhaupt so richtig gefährlich werden. Naomi Girma ist genauso eine Spielerin.

Ich liebe spektakuläre Tacklings genauso sehr wie Tore und habe zum Beispiel ein großes Herz für Vanessa-Gilles-Grätschen. Girma hat auch das in petto, wenn es mal so richtig brenzlig wird, ihr eigentlicher Modus Operandi bei Abwehraktionen ist aber sehr viel eleganter.

Ich hatte das große Glück, sie während der Olympischen Spiele gleich dreimal spielen zu sehen, bei beiden Partien gegen Deutschland und im Finale, das die USA gegen Brasilien gewannen. Girma hat ein herausragendes Stellungsspiel und Gefühl für den Raum, das sich für Zuschauer*innen erst so richtig greifen lässt, wenn man sie im Stadion länger beobachten kann, ohne, dass der eigene Blick durch einen Kameraausschnitt begrenzt wird.

Sie nimmt ihre Gegenspielerinnen häufig schon durch ihre schlaue Positionierung aus dem Spiel und dirigiert dafür auch ihre Mitspielerinnen, balanciert deren Bewegungen umsichtig immer wieder mit kurzen Schritten aus, schiebt lauernde Stürmerinnen in ihren eigenen Deckungsschatten. Reicht das noch nicht, ist Girma auch schnell und beweglich und damit sehr stark im Eins-gegen-Eins auch gegen technisch hochklassige Dribblerinnen und außerdem prädestiniert dafür, Torschüsse im allerletzten Moment doch noch zu blocken. So ist sie zum Beispiel in der abgelaufenen NWSL-Saison auf dem fünften Platz für die meist geblockten Schüsse gewesen.

Naomi Girma und Nicole Anyomi im Duell. Girma auf der linken Bildseite im weißen Trikot der USA, sie ist in der Laufbewegung und schaut vor sich nach unten auf den Ball zu Anyomis Füßen. Anyomi auf der rechten Seite des Bildes im pinken Trikot von Deutschland, einen Arm und ein Bein angewinkelt wie bei einem Übersteiger, ihr Haar fliegt durch die Bewegung und hinter ihr stehen noch kleine Fetzen des Rasens in der Luft, die sie durch ihre Stollenschuhe aufgewirbelt hat. Durch die Symmetrie des Bildes haben die beiden etwas tänzerisches an sich.
Zwei Ausnahmekönnerinnen unter sich. Naomi Girma (USA, links) verteidigt gegen Nicole Anyomis Dribbling (Deutschland, rechts) im Halbfinale der Olympischen Spiele 2024 am 6. August in Lyon. Foto: IMAGO/AFLOSPORT

Naomi Girma: Aus San Jose nach Europa?

Exzellent ist auch ihre Spieleröffnung. Die in San Jose, Kalifornien geborene 24-jährige wechselte erst im Teenageralter in die Innenverteidigung, vorher spielte sie im zentralen Mittelfeld und benennt das als großen Vorteil für ihre Spielweise. Heute schlägt sie aus der letzten Reihe häufig exakte Bälle in die Offensive und ist innerhalb weniger Jahre zur wichtigsten Aufbauspielerin des US-Nationalteams geworden, obwohl Girma selbst sagt, dass sie sich in diesem Punkt noch verbessern könne.

Es gibt eine Tendenz, US-Spielerinnen zu überhypen, in diesem Fall ist aber jede Anerkennung gerechtfertigt, beziehungsweise ausbleibende Anerkennung unverständlich: Zwar haben es Verteidigerinnen immer schwerer, Girma hätte aber unbedingt auf die Liste der Ballon d’Or-Nominierten gehört. Die Expert*innen-Jury von ESPN wählte sie bei dessen Ranking auf den 2. Platz.

Neben der Goldmedaille gewann Girma mit ihrem Verein San Diego Wave im Mai den NWSL Challenge Cup, in der Regular Season reichte es nur zu Platz 10, im Laufe des Jahres gab es gleich mehrere Vorwürfe und schließlich eine Sammelklage gegen den Verein von Präsidentin Jill Ellis und die NWSL durch ehemalige Mitarbeiter*innen. Unabhängig davon scheint gerade offen, ob Girma in San Diego bleibt, zumindest gibt es Gerüchte über einen Wechsel nach Europa, ein ernsthaftes Interesse von zum Beispiel Lyon, aber auch Barcelona wäre jedenfalls nur logisch.

Girmas Eltern kamen beide aus Äthiopien in die USA, ihr Vater gründete den Maleda Soccer Club für die große äthiopische Community in der Bay Area. „Ich glaube, es hat mich gelehrt, Gemeinschaft und Familie wirklich zu schätzen. Ich habe das Gefühl, dass das in Äthiopien eine große Rolle spielt, in Amerika aber nicht immer, und deshalb wollten meine Eltern auf jeden Fall sicherstellen, dass uns das von klein auf vermittelt wird“, so Girma.

Studium und Engagement für Mental Health

Nach ihrem abgeschlossenen Bachelor in Symbolic Systems (ein interdisziplinärer Studiengang aus u.a. Computerwissenschaften, Linguistik und Psychologie) an der Stanford University wurde sie für die NWSL gedraftet, setzte ihre akademische Ausbildung danach aber noch weiter fort mit einem Master in „Management Science and Engineering“.

CW Suizid

Girma setzt sich außerdem gemeinsam mit anderen Fußballer*innen mit der Initiative Create the Space für mentale Gesundheit ein, ein äußerst persönliches Anliegen. Ihre frühere College-Team-Mitspielerin Katie Meyer verstarb durch Suizid. „Leid sieht nicht immer so aus, wie in Filmen“, so Girma, „Egal, ob ich Profisportlerin, Studentin oder was auch immer bin, es ist so wichtig, dass ich mich um andere und um mich selbst kümmere. ‚Create the Space‘ wird Menschen dabei helfen, das Beste aus sich herauszuholen, und kann sogar Leben retten.“

Beitragsbild: IMAGO/justpictures.ch

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Annika Becker berichtet als Journalistin unter anderem für OneFootball und sportschau.de über die Bundesliga der Frauen. In ihren Kolumnen für web.de beleuchtet sie die strukturellen Themen im Fußball. Seit 2022 gehört sie zur Jury des Guardian für die Wahl der „100 Best Female Footballers In The World“. Becker ist Teil der Crew von „FRÜF – Frauen reden über Fußball“, ansonsten podcastet sie bei der „Halbfeldflanke“ und ist als Expertin zum Beispiel im DLF oder bei der BBC zu hören. Für den Rasenfunk war sie bei der WM 2023 in Australien. An den Wochenenden findet man sie auch privat meist im Stadion, denn Beckers Fußball-Herz schlägt für zwei Ruhrgebietsvereine: den FC Schalke 04 und die SGS Essen.

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