Die Boxerin Imane Khelif steht am linken Bildrand, sie trägt rote Boxkleidung und Handschuhe, den rechten Arm hat sie angewinkelt, den linken ausgestreckt. Ihr Haar ist zu Braids geflochten. Credit:

Imane Khelif: Keine sportliche Debatte

Das Achtelfinale im Boxen zwischen Imane Khelif und Angela Carini bei den Olympischen Spielen dauert nur 46 Sekunden. Was folgt ist ein Kulturkampf, der geprägt ist von Vorurteilen und Desinformation.

„Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor die Wahrheit die Schuhe anzieht“, dieses Zitat wird Mark Twain zugeschrieben. In Zeiten von Internet und Social Media kommt bei der Verbreitung von Fake News zu Geschwindigkeit auch die schiere Masse: Weil falsche Meldungen ungeprüft übernommen und geteilt werden, gehen Fakten einfach unter.

Eigentlich war der Achtelfinalkampf zwischen den Boxerinnen Imane Khelif aus Algerien und Angela Carini aus Italien am Donnerstag nur ein Wettkampf unter vielen bei den Olympischen Spielen. Allerdings ein sehr kurzer, aus dem Khelif bereits nach 46 Sekunden als Siegerin hervorging. Carini verweigerte ihr daraufhin den Handschlag. In Medien wie auch sozialen Netzwerken entbrannte eine hitzige Debatte, die sich vermeintlich der Fairness verschrieben hat – aber alles andere als fair geführt wird.

Szene im Ring: Rechts die Boxerin Imane Khalif in rot, in der Mitte die ringrichtende Person, rechts die Boxerin Angela Carini in blau. Beide Boxerinnen schauen unter sich, Khelifs Arm wird in die Luft gehalten, Carini hält die Hand an der Nase. (Credit: IMAGO/ABACAPRESS)
Ein Sieg, dessen Nachhall ohrenbetäubend ist. (Foto: IMAGO/ABACAPRESS)

Es ist eine Auseinandersetzung, in der drei Themen kollidieren: Wie können Fakten zusammengetragen werden? Welche Rolle spielt die International Boxing Association IBA in der Diskussion? Und vor welchen Aufgaben stehen Sport und Gesellschaft bei Fragen von Gender und Binarität im Sport?

IBA: Der ausgeschlossene Verband

Wie die Aussage zustande gekommen ist, Khelif sei eine trans Frau, lässt sich auch mit Blick auf die IBA herleiten: Der Verband ist, anders als sein Name das zunächst vermuten lässt, nicht der Weltverband es Olympischen Boxsports – zumindest nicht mehr. Bereits 2019 wurde er vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) vorläufig suspendiert, unter anderem aufgrund des Verdachts manipulierter Ringrichter-Urteile bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio. Außerdem erhob das IOC Vorwürfe hinsichtlich intransparenter Geldflüsse.

Der eigentlich fürs Amateur*innenboxen zuständige Verband (ursprünglich AIBA, das A für Amateur*innen wurde zwischenzeitlich gestrichen) hatte mutmaßlich beim Versuch, einen Profizweig aufzubauen, viel Geld verbrannt. Kritisiert wird außerdem eine finanzielle Abhängigkeit vom russischen Konzern Gazprom. Vorsitzender der IBA ist der russische Funktionär und ehemalige Boxer Umar Kremlew.

Die Entscheidung des IOC, die IBA aus der olympischen Familie auszuschließen, wurde 2023 vom Internationalen Sportgericht (TAS) in Lausanne bestätigt. Damit hat der Verband keine Zukunft bei Olympischen Spiele. Die Turniere 2021 in Tokio und derzeit in Paris wurden von einer Taskforce des IOC organisiert, für 2028 braucht es einen neuen Partner. Derzeit sieht es danach aus, als würde das der noch junge Dachverband World Boxing unter Vorsitz des Niederländers Boris van der Vorst.

Amateurboxerin Khelif: 37 Siege, 9 Niederlagen

Was aber haben die Verbandsquerelen mit der Debatte um Khelif zu tun? Die 1999 geborene Algerierin, die seit ihrer Kindheit boxt, debütierte bei den Amateur-Boxweltmeisterschaften in Indien 2018, wo sie in der ersten Runde ausschied und Rang 17 belegte. Insgesamt konnte sie in ihrer Amateurinnenkarriere 37 Kämpfe gewinnen, davon fünf durch K.O. – 9 Mal war sie die unterlegene Boxerin (Quelle).

Im März 2023 allerdings war Khelif von den Weltmeisterschaften in Indien ausgeschlossen worden, und das eben vom IBA. Als Grund wurde ein nicht bestandener Geschlechtstest angeführt. Angeblich sei bei Khelif neben einem X- auch ein Y-Chromosom festgestellt worden, erklärte Umar Kremlew seinerzeit. Auch von erhöhten Testosteronwerten war die Rede. Medizinische und genetische Geschlechtstests im Sport sind durchaus umstritten. Das fängt historisch schon damit an, dass es dabei immer um die vermeintliche Beweisführung geht, wer eine Frau ist und wer nicht – bei den Männern wird diese Diskussion gar nicht erst geführt.

Im Falle von Khelif kommt hinzu, dass die Aussagen rund um die angeblichen Ergebnisse nicht kongruent sind und zudem die Art der Tests völlig intransparent. Am Tag vor ihrem Kampf nämlich veröffentlichte das IBA ein Statement, in dem plötzlich nicht mehr von einem DNA-Test die Rede war, mit dem Chromosomen überprüft wurden, sondern von einem „anerkannten Verfahren“, das demnach „eindeutig“ ergeben habe, dass Khelif einen „Wettbewerbsvorteil“ habe.

Eine Person zu misgendern ist Gewalt

Während die Faktenlage ohnehin alles andere als eindeutig ist, würde selbst das vom IBA beschriebene Szenario Khelif nicht zu einer trans Person machen, womöglich wäre ihrer ein Fall von Intergeschlechtlichkeit. Die sich rasend schnell verbreitende Aussage, die Boxerin sei „eigentlich ein Mann“ ist eine schlichte Falschbehauptung, Khelif wurde bei der Geburt als Geschlecht weiblich zugewiesen, sie identifiziert sich als Frau und ist als solche aufgewachsen.

In ihrer Heimat Algerien sind Geschlechtsangleichungen für trans Menschen zudem verboten. Die Sportlerin in einer Tour zu misgendern, wie das in Medien und sozialen Netzwerken seit Tagen passiert, ist gewaltsam und übergriffig. Beides hat weder etwas mit dem Olympischen Gedanken zu tun, dem sich die Leute vermeintlich verschrieben haben, noch mit dem ominösen Kampf um einen fairen Sport für Frauen. Im Gegenteil steckt darin auch die Gewalt, die Personen erfahren, wenn ihre Optik nicht dem entspricht, was weite Teile der Gesellschaft mit Weiblichkeit assoziieren. Diese Gewalt trifft nicht-weiße Personen häufiger und härter; sie ist nicht nur frauenfeindlich, sondern auch zutiefst rassistisch. Und im Kern bleibt sie transfeindlich, auch wenn Khelif keine trans Person ist.

Die richtigen Fragen stellen: Wer profitiert?

Wer aber profitiert von der Diskussion? Zum einen die IBA, die nun sogar ein Preisgeld an die unterlegene Boxerin Carini ausschütten möchte, weil Kremlew sich ihre „Tränen nicht ansehen“ konnte. Ganz schön viel positiv geframte Schlagzeilen für einen Mann, unter dessen Führung im September 2022 der ukrainische Verband mit zweifelhafter Begründung suspendiert wurde.

Umar Kremlew in blauem Anzug mit hellblauem Hemd und Krawatte, er sitzt an einem Mikrofon, schaut aus dem Bild. Hinter ihm russische Schrift, mutmaßlich auf einer Aufstellwand.
Ein Mann mit einer ganz eigenen Agenda: Umar Kremlew. (Foto: IMAGO/Russian Look)

Ganz abgesehen davon, dass der Kreml den entmachteten Verband und die Debatte um Khelif nutzt, um Stimmung gegen das IOC zu machen: Schließlich ist man in Russland nicht glücklich darüber, dass lediglich 15 Athlet*innen und das nur unter neutraler Flagge starten dürfen – und sucht Gelegenheiten, sich positiv in Szene zu setzen.

Profiteurin ist außerdem die Regierung der italienischen Rechtspopulistin Giorgia Meloni. Die Regierungschefin ließ sich öffentlichkeitswirksam mit Carini ablichten, suchte das Gespräch mit IOC-Präsident Bach und dürfte sich die Hände reiben über die eskalierende Debatte in italienischen Medien. Schließlich hat ihre ultrarechte Regierung queere Menschen und deren Lebensentwürfe längst ins Visier genommen, unter anderem, indem sie die Geburtsurkunden von Kindern mit gleichgeschlechtlichen Eltern juristisch anfechten.

So che non mollerai, Angela, e so che un giorno guadagnerai con sforzo e sudore quello che meriti. In una competizione finalmente equa. pic.twitter.com/bJ2GfAUTzq

— Giorgia Meloni (@GiorgiaMeloni) August 1, 2024

Völlig untergegangen ist in der aufgeheizten Debatte, wie sich Carini im Nachhinein geäußert hat. Der Gazzetta dello Sport sagte die Boxerin: „Wenn sie nach der Meinung des IOC kämpfen darf, respektiere ich die Entscheidung.“ Zudem betonte die Unterlegene: „Diese Kontroversen haben mich auf jeden Fall traurig gemacht und es tut mir leid für die Gegnerin, die auch nur hier ist, um zu kämpfen.“ Ihren verweigerten Handschlag erklärte sie mit der Enttäuschung über den Ausgang des Kampfes.

Von den Debatten um das Geschlecht ihrer Gegnerin distanzierte sie sich ausdrücklich und erklärte: „Ich entschuldige mich bei ihr und bei allen. Ich habe nichts gegen Khelif. Wenn ich sie noch einmal treffen würde, würde ich sie umarmen.“ Die Aussagen zeigen plastisch, dass Sportlerinnen vielfach überhaupt kein Interesse daran haben, sich vor die Karren derjenigen spannen zu lassen, die sich vermeintlich für ihre Rechte einsetzen.

Debatte: Sport jenseits der Binarität

Apropos Rechte. Auch wenn Khelif keine trans Sportlerin ist, wie auch das IOC noch einmal ausdrücklich betonte, spielt die Debatte um Sport jenseits der Binarität in die Diskussion natürlich deutlich hinein. Diese nämlich damit zu beenden, dass nach dem Verständnis einer Mehrheitsgesellschaft alles mit rechten Dingen zugegangen ist, würde bedeuten, zugleich abzusegnen, der Umgang mit Khelif sei okay gewesen, sofern sie trans gewesen wäre.

The chief spokesman for the International Olympic Committee condemned the online fury that he said unfairly sought to cast doubt on the gender of Imane Khelif, an Algerian boxer, after her 46-second fight on Thursday. https://t.co/qAsxZEzOtz pic.twitter.com/AfLfeojELg

— The New York Times (@nytimes) August 2, 2024

Doch die unmenschliche Hetzjagd der letzten Tage wäre dann ebenso inakzeptabel. Zum anderen ist es an der Zeit, über Sport und Gender neu nachzudenken – und dabei ideologische Überzeugungen außen vor zu lassen. Natürlich geht es im Sport auch um Fairness, Gleichheit lässt sich aber nun mal nicht herstellen, und das betrifft viel mehr Punkte als das Geschlecht. Wie früh Menschen zum Sport kommen, wie gut Strukturen oder die Trainer*innen sind oder wie es um Fördermöglichkeiten steht, all das spielt da ebenso eine Rolle, wie körperliche Voraussetzung jenseits von Geschlecht.

Niemand kam schließlich auf die Idee, einen Michael Phelps von Wettbewerben auszuschließen, weil sein Torso im Vergleich zu den Beinen länger ist als durchschnittlich oder seine Armspannweite größer. Körperliche Merkmale, die Vorteile oder Nachteile für verschiedene Sportarten mit sich bringen, gibt es zuhauf – und es ist nicht nachvollziehbar, wieso diese Debatte einerseits nicht, andererseits beim Geschlecht dermaßen verbittert geführt wird.

Das mag ein kompliziertes Thema sein, bei dem wir in der Debatte noch ganz am Anfang stehen. Aber die Diskussionen um die Boxerin Khelif haben eines ganz deutlich gezeigt: Wie diese Diskussion auf keinen Fall geführt werden darf.

Beitragsbild: IMAGO/ABACAPRESS

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Mara Pfeiffer begleitet als Journalistin seit vielen Jahren den 1. FSV Mainz 05 mit Analysen und Kolumnen. In TV- & Radio ist sie als Expertin rund um Fußballthemen auf und neben dem Platz zu Gast. Sie gehört zur Crew von „FRÜF – Frauen reden über Fußball“. Für Sport1 spricht Pfeiffer im Podcast „Flutlicht an!“ mit Menschen über Fußball, die zu wenig im Rampenlicht stehen. In ihrer web.de-Kolumne schreibt sie über gesellschaftliche Schieflagen und wie diese sich im Fußball wiederspiegeln. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur und Autorin von neun Büchern, darunter Sachbücher und Krimis rund um Mainz 05, sowie die Biografie von Wolfgang Frank. Das Medium Magazin wählte Pfeiffer bei den Journalist*innen des Jahres im Sport 2022 auf Platz 3.

7 thoughts on “Imane Khelif: Keine sportliche Debatte”

  1. Dank und Hut ab, hier vor dem verurteilen mal die Fakten aufzulisten und vorher zu checken. Etwas ,was die allerwenigsten machen, bevor sie etwas weiterleiten oder kommentieren. Menschen deren Genetik nicht immer 100% der Männlein und Weiblein Zusammensetzung entspricht, ist nicht erst seit gestern ein Problem. im ersten Moment waren die allermeisten wahrscheinlich auf der Seite der italienischen Boxerin aber ich habe leider bisher noch nirgendwo gelesen, dass sich jemand mal Gedanken darum gemacht hat, wie sich die algerische Boxerin fühlt? Es ist sicher nicht das erste Mal, dass Sie sich damit konfrontiert sieht…

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