Beziehungsweise: Fußball und Europa – das Projekt FANZinE
Deutschland ist raus, die EM läuft weiter – und mit ihr die Diskussion, was rund um den Versuch eines Fußballfestes schwerer wiegt: Freude an der europäischen Gemeinschaft oder abgrenzender Patriotismus, bei dem die Übergänge zu Nationalismus fließend sind. An der Johannes Gutenberg-Universität Mainz haben Wissenschaftler untersucht, ob es beim Blick auf Europa Unterschiede zwischen Fußballfans und Nicht-Fans gibt. Wir haben mit einem von ihnen gesprochen.
Bolztribüne: Erklär doch bitte unseren Leser*innen, wie euer Forschungsprojekt FANZinE aufgebaut war.
Vincent Reinke: Das Forschungsprojekt schaut auf Fußball als Grundlage gesellschaftlichen Zusammenhalts in Europa und besteht aus drei Teilen. Als erstes haben wir in einer Medienanalyse Online-Artikel von elf Medienhäusern aus den vier Untersuchungsländern Deutschland, Norwegen, Polen, Spanien zum europäischen Clubfußball der Männer betrachtet. Dabei haben wir festgestellt, diese Berichterstattung ist sehr exklusiv und orientiert sich stark am Abschneiden der Länder in den UEFA-Clubwettbewerben. Auffällig ist aber, dass über jedes Land, aus dem Vereine international spielen, zumindest ein bisschen berichtet wird.
Ihr habt das rückwirkend über sieben Saisons gemacht. Wie seid ihr da vorgegangen und welche Medien habt ihr untersucht?
Wir haben die Seiten gescraped, sprich automatisch ausgelesen. Das hat die Auswahl der Medien natürlich beeinflusst, weil die über ein gutes Archiv verfügen müssen, was für die sportspezifischen so nicht immer zutrifft. In Deutschland haben wir Spiegel Online, Süddeutsche und Welt untersucht. In Spanien hatten wir aber beispielsweise Marca dabei.
Als zweites haben wir eine repräsentative Umfrage mit 1.760 Befragten pro Land in Auftrag gegeben. Alle Personen mussten allgemeine Fragen zu politischer Einstellung und dem Verständnis von Europa beantworten. Und eine Filterfrage, ob sie sich als Fußballfan identifizieren. Wer sich entweder selbst als Fan identifiziert oder auf einer Skala des Fußballinteresses von 0 bis 10 mindestens mit sieben kategorisiert hat, wurde zusätzlich zum Fußball befragt. Dabei hat sich eine hohe Unzufriedenheit mit der Entwicklung der europäischen Wettbewerbe herauskristallisiert. Was die politischen Themen angeht, konnten wir so die Fans vergleichen mit denjenigen, die sich nicht als Fan verstehen.
Wie hoch war der Anteil der Fans? Und was hat der Vergleich ergeben?
Knapp 56 Prozent der Befragten haben sich durchschnittlich als Fans kategorisiert, und: Wir haben festgestellt, dass sie signifikant positiver gegenüber Europa und der EU eingestellt sind. Die hohe Zahl an Fans ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Lebenswelt als Fan relevant ist und insofern ist auch diese zugeneigte, europäische Einstellung von Bedeutung. Umso mehr, weil Fußball selbst ja extrem identitätsstiftend ist.
Im dritten Teil haben wir Tiefeninterviews mit verschiedenen Personen aus dem Fußball – wie Verantwortlichen der Verbände und Fanorganisationen –, aber auch aus der Politik – beispielsweise dem europäischen Parlament – geführt. Da ging es uns vor allem darum, welche Potentiale sie mit Blick auf den sozialen Zusammenhalt in Europa bei Fußballfans sehen.
Und in gewisser Weise habt ihr an frühere Studien angedockt, richtig?
Unser Studienleiter Arne Niemann hat sich bereits in der Vergangenheit wissenschaftlich damit beschäftigt, inwieweit Fußball ein Thema spielen kann bei europäischer Integration, also inwieweit Europäisierung den Fußball selbst beeinflusst. Wenn man sich das Bosman-Urteil anschaut, hat die EU ja einen konkreten Einfluss auf den Fußball, weil die Beschränkungen für ausländische Spieler*innen weggefallen sind. Themen wie Reisefreiheit, einheitliche Währung oder auch der Wegfall von Roaming-Gebühren sind andererseits Erleichterungen für Fans. Sowas erleben Fans nicht zwingend die ganze Zeit aktiv und bewusst, aber Europa wird so zu einer positiven Gewohnheit.
Was habt ihr herausgefunden darüber, wie die Befragten Europa definieren? Also eher innerhalb der EU-Grenzen oder mehr angelehnt daran, welche Länder in europäischen Wettbewerben zugelassen sind?
Da sind wir ein bisschen experimentell vorgegangen, indem wir gefragt haben: Gehört Land XY zu Europa? Dafür haben wir Ländergruppen eingeteilt, einmal solche, die in der EU sind, dann Länder mit mehr oder weniger engen Beziehungen zur EU, deren Mitgliedsverbände in der UEFA sind. Da haben sich zwischen Fans und Nicht-Fans keine großen Effekte gezeigt, mit Ausnahme von wenigen Ländern, wie Serbien und die Türkei. Die wurden von Fans signifikant häufiger als Teil von Europa beschrieben, da sieht man also schon eine Art Fußballeffekt.
Könnt ihr Rückschlüsse ziehen, welche Rolle die Internationalisierung von Teams spielt?
Das ist eher bei den vorherigen Untersuchungen passiert, mit dem Ergebnis, dass diese einen positiven Blick auf Europa mitprägen. Meine persönliche Vermutung ist aber, da passiert vieles emotional: Wenn man im Stadion fragt, wüssten vermutlich längst nicht alle, dass die EU über ein Urteil des europäischen Gerichtshofs zur Arbeitnehmer*innen-Freiheit relevant ist dafür, dass Personen aus verschiedensten europäischen Ländern in einem Team spielen. Genau das hat das Bosman-Urteil ja aber erreicht.
Habt ihr eigentlich unterschieden zwischen Fans von nationalen Teams auf der einen und Nationalmannschaften auf der anderen Seite? Da würde man ja im Blick auf Europa schon Unterschiede vermuten.
Wir haben das nicht abgefragt, aber uns ist bewusst, dass es da verschiedene Positionen gibt – und diese abgrenzenden nationalistischen Mechanismen wiederum gegensätzliche Effekte bilden zu dem, was wir an anderer Stelle positiv messen konnten.
Aus den Gesamtergebnissen leitet ihr Empfehlungen ab, unter anderem die, das Konzept der Fanprojekte auf andere europäische Länder zu übertragen. Was ist da eure Hoffnung?
Die Fanprojekte haben sich in Deutschland zum einen dadurch bewährt, dass sie außerhalb der eigentlichen Vereinsstrukturen liegen. Zum anderen können gerade junge Menschen in den Strukturen von Vereinen die Basis demokratischer Beteiligung erleben, was eine enorm wertvolle Erfahrung sein kann.
Welche Rolle spielt aus eurer Sicht die aktuelle Europameisterschaft?
Was die EM als großes Sportereignis auf jeden Fall bietet, ist eine Chance zum Austausch von Werten und Vorstellungen beim Blick auf den Fußball und die Rolle des Sports für Europa als eine starke Gemeinschaft. Dabei spielt gerade die Vernetzung von Fans über Organisationen wie die Football Supporters Europe (FSE) eine Rolle.
Wie nutzen wir Fußball positiv für eine europäische Identität, ohne ihn mit zu großen Aufgaben zu überfrachten?
Indem wir ihn als das sehen, was er ist: Ein Aspekt gesellschaftlichen Zusammenlebens, der diese Identität beeinflusst. Zentral ist, die gesellschaftspolitischen Potentiale, die im Fußball nachweislich liegen, bestmöglich zu fördern. Denn diese Offenheit der Fans bezüglich Europa ist einfach da. Und diese Kraft, die der Fußball hat, sollte man nutzen.
Das Projekt FANZinE
Fußball als Grundlage gesellschaftlichen Zusammenhalts in Europa
Juli 2021 bis Juli 2024
Deutschland, Norwegen, Polen, Spanien
Medienanalyse, Survey, Expert*inneninterviews, Workshops