Foto mit Blick auf die laufende Aufnahme einer Fernsehkamera des EM-Viertelfinalspiels England gegen Schweiz. Das Bild im Kamerabildschirm ist scharf, aber klein, das „echte“ Bild im Hintergrund ist verschwommen. Foto: IMAGO/Steinsiek.ch

Wie die Zeitlupe den Fußball veränderte

Die Geschichte des Videobeweises im Fußball ist eng mit der Entwicklung der Foto-, Video- und Fernsehtechnik, insbesondere der Zeitlupe, verbunden. Bereits in der Zwischenkriegszeit nutzten Filmemacher*innen die technischen Möglichkeiten, um Sportereignisse für die Zuschauer*innen zu Hause erlebbar zu machen.

Revolutionäre Ideen und erste Anwendungen

Ein prägnantes, frühes Beispiel für den Einsatz von Zeitlupenaufnahmen war das FA-Cup-Finale 1932 zwischen Newcastle United und dem FC Arsenal. Eine Zeitung veröffentlichte ein Standbild, das suggerierte, der Ball sei vor einer entscheidenden Flanke im Aus gewesen. Die Diskussion um die Richtigkeit dieser Entscheidung zeigte schon früh die Macht der Zeitlupe oder Standbild.

1970 kritisierte das IFAB (International Football Association Board) erstmals den Einsatz von Fernsehbildern und Zeitlupen, da sie die Autorität der Schiedsrichter untergruben. Dennoch wurde die Verwendung von Fernsehbildern als Beweismittel in Sportgerichtsverfahren ab Ende der 1960er Jahre immer populärer, was zu einer Reihe von Präzedenzfällen in verschiedenen Ländern führte.

TV-Bilder als Beweismittel

In Deutschland wurden Filmaufnahmen erstmals 1977 als Beweismittel in einem Sportgerichtsverfahren verwendet. Der Fall Hans Flohe und Werner Lorant, in dem Fernsehbilder zum Freispruch Lorants führten, sorgte für heftige Diskussionen. Der DFB stand dieser Entwicklung skeptisch gegenüber, da er befürchtete, dass die Kameras dauerhaft Einzug in den Gerichtssaal halten würden.

Der Spiegel berichtete damals über den hohen finanziellen Aufwand für die notwendige Ausstattung der Stadien mit Kameras und das Problem verzerrter Blickwinkel. Trotz dieser Bedenken wurde die Verwendung von Fernsehbildern als Beweismittel in den 1970er Jahren in mehreren Ländern zum Standard.

Visionäre Technologie und neue Herausforderungen

1976 stellten die beiden französischen Ingenieure Michel Jolly und René Moreau vor, wie sie die Arbeit der Schiedsrichter durch technische Hilfsmittel erleichtern wollten. Nach ihren Vorstellungen sitzen die drei Unparteiischen in einem gläsernen Raum zwischen Spielfeld und Zuschauern und haben mehrere Knöpfe vor sich, die verschiedenen Vergehen zugeordnet sind.

Wenn zum Beispiel mindestens zwei der drei Schiedsrichter innerhalb weniger Sekunden den Knopf „Foul“ drücken und dabei die gleiche Rückennummer nennen (personalisierte Trikots gab es damals noch nicht), dann verkündet der oder die Schiedsrichter*in über den Stadionlautsprecher, dass ein Foul begangen wurde. Das klingt ein wenig wie ein Science-Fiction-Comic aus den 1970er Jahren, ist aber gar nicht so weit von der heutigen Variante entfernt.

1990 rühmte sich der italienische Fernsehsender RAI seiner technischen Möglichkeiten, die weiter fortgeschritten seien als in jedem anderen Land. Technische Möglichkeiten wie das Einblenden von Bewegungen in ein Standbild, um Taktiken zu klären oder Schiedsrichterentscheidungen zu überprüfen. Damals bezeichneten es Reporter*innen als eine „Mischung aus Computerspiel“ und Orwell’scher Kicker-Überwachung. Joseph Blatter, damals noch FIFA-Generalsekretär, tat es als „Quatsch“ ab und der Organisationschef der WM 1990, Hermann Neuberger, fand den exzessiven Einsatz von Standbildern und Slow-Mos „weit weg von der Realität des Fußballs“. Das hinderte deutsche Fernsehsender nicht daran, sich an der RAI ein Beispiel zu nehmen, insbesondere SAT1 mit seinem Format ran, für das die Zahl der Kameras deutlich erhöht wurde, um „alle kleinen Scharmützel im Kasten“ zu haben. (NN: „Alle Scharmützel im Kasten“. In: Der Spiegel 8 (1993) (22.02.1993). Link.)

„Accepted with bad grace“

Die Skepsis bei den Fußballfunktionären blieb in den 1990er Jahren groß. Im Protokoll der Jahreshauptversammlung des IFAB von 1995 wird der „Videobeweis“ erstmals seit 1970 erneut thematisiert – diesmal meistens unter dem Begriff „Video Evidence“ (selten auch „Overturn of Match Results“ und „Use of Television Evidence in Deciding a Match Result“).

Darin unterstützte das IFAB einen Tadel der FIFA Richtung Türkei und Deutschland, wo Spielentscheidungen am grünen Tisch mit Hilfe von Videoaufnahmen überprüft und neu angesetzt wurden. In Deutschland betraf das ein Spiel am 33. Spieltag der Saison 1994/95 in der 2. Bundesliga: An diesem 11. Juni spielte Chemnitz in Leipzig. Nach einem Foulspiel zeigt der Schiedsrichter Michael Prengel dem Leipziger Spieler Roland Werner die gelb-rote Karte. Als der Schiedsrichter einige Sekunden später bemerkte, dass der Leipziger Spieler noch keine gelbe Karte gesehen hatte, zeigte er ihm nur die rote Karte. Leipzig verlor das Spiel mit 2:3 und klagte auf ein Wiederholungsspiel. Das wurde am grünen Tisch stattgegeben und ging 1:0 für Leipzig aus .

Die FIFA begründete den Tadel mit der Tatsachenentscheidung der Spieloffiziellen, die nicht mit Videomaterial revidiert werden dürfen und pochte auf die Annullierung des Wiederholungsspiels. Dem kam Deutschland nach, wenngleich die Vorgabe der FIFA nur ungnädig angenommen wurde – „accept with bad grace“, vermerkte das IFAB-Protokoll.

VAR bekommt eine Chance

Während das IFAB dem Videobeweis in den 1990er Jahren noch skeptisch gegenüberstand, setzte ab dem Jahr 2000 ein allmählicher Wandel ein. Die Einführung der Torlinientechnik war ein erster Schritt, Kamerabilder wurden jedoch weiterhin abgelehnt. Erst 2009 wurden die Experimente wieder aufgenommen und 2013 wurde entschieden, dass die Organisatoren der Wettbewerbe über den Einsatz der Torlinientechnik entscheiden.

Trotz anfänglicher Widerstände begann das IFAB kurz vor der Amtszeit von FIFA-Präsident Joseph Blatter, über den Videobeweis zu diskutieren. Der niederländische Verband KNVB präsentierte 2015 einen Test, bei dem zusätzliche Schiedsrichterassistenten per Funk mit dem Schiedsrichter verbunden waren und Zugriff auf die Fernsehbilder hatten. Dies war der Beginn der modernen Ära der VAR (Video Assistant Referee), die heute aus dem Profifußball nicht mehr wegzudenken ist.

Beitragsbild: IMAGO/Steinsiek.ch

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Petra Tabarelli ist Fußballhistorikerin und -journalistin. Die Spezialistin für die Entwicklung der Fußballregeln schreibt für die DFB-Schiedsrichter-Zeitung, ist als Expertin im Deutschlandfunk zu hören und hat als Beraterin fürs IFAB gearbeitet. Tabarelli ist Mitglied des prämierten Kollektivs „FRÜF“ und setzt sich in der web.de-Kolumne für eine stärkere Präsenz und Förderung von Schiedsrichterinnen im Fußball der Männer ein. 2023 wurde sie zum Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur ernannt. Zudem hat die Expertin die erste Biografie über den zu Lebzeiten sehr bekannten Simon Rosenberger geschrieben, einen jüdischen Fußball-Pionier und Begründer der DFB-Schiedsrichter-Zeitung, der zuvor aus der Geschichte getilgt worden war.

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