Ashley Lawrence, Adriana Leon und Kadeisha Buchanan stehen in Toronto im BMO Field Stadium und zeigen lachend ihre Olympia-Gold-Medaillen. Die Tribüne hinter ihnen zeigt das Rot der kanadischen Flagge mit weißem Ahornblatt.

Kanada: Olympia-Gold-Team in der Zeit nach Christine Sinclair

Zum ersten Mal startet Kanada ohne Christine Sinclair in ein olympisches Fußballturnier. Das allererste große Verbands-Turnier mit kanadischer Beteiligung ohne sie war der Gold Cup in diesem Jahr, seit der CONCACAF Championship im Jahr 2000 war Sinclair immer dabei, wenn Kanada bei einem großen internationalen Turnier an den Start ging.

Bis zur offiziellen Verabschiedung der 41-jährigen Ende letzten Jahres gab es auf dieser Welt einige junge Erwachsene, die Kanada gar nicht ohne Sinclair kennen. Mit 331 Länderspielen und 190 Länderspieltoren ist sie unabhängig vom Geschlecht die alleinige Weltrekordtorschützin.

So eine Stürmerin ersetzt man nicht mal eben so – allerdings ist genau das der Knackpunkt, der Trainerin Bev Priestman nun schon seit einer ganzen Weile umtreibt. Denn natürlich musste Sinclair sich in den letzten Jahren anpassen: an die sportlichen Entwicklungen im Fußball einerseits und an die eigene altersbedingte Entwicklung andererseits.

Rückblick: Gold bei den olympischen Spielen in Tokio

Ein Foto wie ein Renaissance-Gemälde: Nach dem Gewinn der Gold-Medaille im Elfmeterschießen gegen Schweden jubelt das kanadische Team. 6. August 2021. Foto: IMAGO/USA TODAY Network.

Vor den olympischen Spielen in Tokio war Bev Priestman gerade mal neun Monate lang Trainerin Kanadas und schnitt ihre Taktik genau auf die damals 38-jährige zu: Kanada lief in einem 4-4-2 mit Raute auf und Sinclair war als offensive Mittelfeldspielerin der vordere Teil dieser Raute hinter zwei Angreiferinnen. Sie sollte dort ihre Technik, Übersicht und schiere Größe ausnutzen, um Bälle zu gewinnen und ihre Mitspielerinnen einzusetzen.

Bei gegnerischem Ballbesitz stand Kanadas Abwehrkette in Tokio sehr hoch. Häufig versuchen bei einer solchen Anordnung die beiden Stürmerinnen im Pressing die Gegnerinnen direkt so zu leiten, dass sie auf den Flügel spielen. Eigentlich ist das einfacher zu verteidigen.

Eine klassische Rolle wäre es gewesen, Sinclair als eine dieser beiden Stürmerinnen einzusetzen. Priestman aber ließ sie zentral im Mittelfeld stehen und wies ihre beiden Stürmerinnen an, so zu pressen, dass die Gegnerinnen zu langen Bällen in die Mitte gezwungen werden – wo Sinclair dann in der Regel mit ihrem Kopfballspiel alles abräumte.

Pragmatismus… und Drama

Eine pragmatische Taktik also. Das Ende ist bekannt: Gold nach einem dramatischen Elfmeterschießen gegen Schweden, mit wechselnder Führung mittendrin und das alles während der seltsamen Pandemie-Stimmung im leeren Stadion. Eine vorher ungewohnt löchrige Defensive konnte Priestman stopfen, am Ende des Turniers stand (ohne Elfmeterschießen) ein effizientes sechs zu vier Gesamt-Torverhältnis.

Eine gerade Linie war der Weg zum Erfolg nicht: In der Gruppenphase nur ein Sieg und zwei Unentschieden, im Viertelfinale erst im Elfmeterschießen weiter gegen Brasilien, dann ausgerechnet im Halbfinale gegen die USA der einzige Sieg nach 90 Minuten in der K.O.-Phase, nachdem Kanada vorher zwei Jahrzehnte nicht gegen die Angstgegnerinnen gewinnen konnte.

Und Christine Sinclair? Erzielte nur ein einziges Tor und gab nach ihrem verschossenen Versuch beim Elfmeterschießen gegen Brasilien Trainerin Priestman die Anweisung, die damals 23-jährige Jessie Fleming ab da anstatt ihrer selbst schießen zu lassen.

Systemwechsel nach der WM 2023

Völlig klar, dass Sinclair aus einer zurückgezogenen Position nicht mehr so viele Tore erzielte. Auch Verbindungen aus dem Mittelfeld heraus in den Angriff zu schaffen, gestaltete sich aber in der letzten Zeit schwierig.

Dann der Abschied vom Nationalteam im letzten Winter. „Wir bekamen den unglaublichen Abschied, den Sincy sich verdient hat“, erzählt Bev Priestman in einer Medienrunde im Rahmen der Kaderbekanntgabe für Olympia.

„Und dann, 2024, mussten wir ohne sie weitermachen. Das ist ein natürlicher Prozess. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Wenn ich mir die Portland Thorns anschaue und sehe, was sie da macht, begeistert sie mich! Sinc hatte einige einzigartige Eigenschaften, die dieses Team vielleicht niemals ersetzen kann, aber was wir nicht ersetzen können, machen wir vielleicht auf andere Weise wett.“

Spielplan Gruppenphase

Gruppe A
25.07.2024, Kanada – Neuseeland, 17 Uhr, Saint-Étienne
28.07.2024, Frankreich – Kanada, 21 Uhr, Saint-Étienne
31.07.2024, Kolumbien – Kanada, 21 Uhr, Nizza

Kopfzerbrechen über die Offensive

Die Offensive an sich sowie deren Anbindung ans Spiel waren zwei große Themen für Priestman und Coaching-Team bei der Kadernominierung, für die auch Lehren aus der enttäuschenden WM 2023 gezogen werden sollten:

„Habe ich die richtige Startelf gewählt? Haben wir das richtige System für die Spielerinnen gespielt, die ich vor mir hatte? Es gab eine Menge Gedanken zur Weltmeisterschaft“, so Priestman. Eine große Umstellung nach der WM ist das System. Während beim Turnier letztes Jahr noch alles im Zeichen der Viererkette (mal ein 4-3-3, mal ein 4-2-3-1) stand, gab es zuletzt fast ausschließlich ein 3-4-3.

Die einzige Halbzeit mit einem 4-4-2 mit Raute im Jahr 2024 gab es im April im Halbfinale des SheBelieves Cup gegen Brasilien – und das lief so schlecht inklusive 0:1-Rückstand, dass Priestman in der Halbzeit wieder aufs 3-4-3 umstellte. Danach konnte das Spiel gedreht werden und Kanada zog ins Finale gegen die USA ein. Wie schon beim Gold Cup rund einen Monat vorher wurde das Endspiel aber im Elfmeterschießen verloren.

„Bezüglich der Offensive habe ich mir am meisten den Kopf darüber zerbrochen, was wir brauchen. Das Profil der vorderen Drei und die richtige Mischung auf dem Spielfeld ist etwas, das ich wirklich begonnen habe, zu entschlüsseln und zu verstehen.“

Schematische Ansicht eines grünen Fußballfeldes mit weißen Linienmarkierungen, darauf elf rote Kreise für die Spielerinnen Kanadas mit entsprechender Rückennummer in der 3-4-3 Formation.
So könnten sie spielen: Kailen Sheridan (1); Kadeisha Buchanan (3) – Vanessa Gilles (14) – Jade Rose (12); Jayde Riviere (8) – Julia Grosso (7) – Jessie Fleming (17) – Ashley Lawrence (10); Cloé Lacasse (20) – Adriana Leon (19) – Janine Beckie (16).

Torausbeute vs. Erfahrung

Am treffsichersten für ihren Verein war die 27-jährige Evelyne Viens, die mit der AS Rom das italienische Double gewann und wettbewerbsübergreifend 18 Tore und 9 Vorlagen in 37 Spielen zur Saison beisteuerte. Wahrscheinlich ist die erfahrene Adriana Leon aber im Sturmzentrum dennoch gesetzt.

„Gegen die Top 10 der Welt müssen wir in der Lage sein, zu verteidigen und dafür brauchen wir eine Menge Beine. Wir haben vorne drei, vier top-fitte und laufstarke Spielerinnen. Und vom Profil her Flügelspielerinnen, die mehr die Verbindung zum Mittelfeld suchen, gerne ins Eins-gegen-Eins gehen, während unsere Neun in diesem System diejenige ist, die die Läufe hinter die Kette macht“, erklärt Priestman ihre Auswahl.

Auftritt: Jessie Fleming

Während manche also positionstechnisch auf Sinclair-Pfaden wandern, hat eine andere die vielleicht noch größere Aufgabe: emotional in ihre Fußstapfen zu treten. Jessie Fleming hat seit Jahren einen festen Stammplatz im zentralen Mittelfeld und ist die neue Kapitänin Kanadas. Diejenige also, die 2021 auf Sinclairs Wunsch hin ihre Elfmeter übernehmen sollte und sich als so natürliche Nachfolgerin anfühlte, dass die Entscheidung immer klar schien, selbst als sie noch nicht offiziell gefallen war.

„Sie ist sehr mannschaftsdienlich und hat auch viel Einsatz gezeigt. Für das Pride-Trikot zum Beispiel. Sie hat sowohl auf als auch abseits des Platzes viel bewegt“, sagt Priestman über die 26-jährige Mittelfeldspielerin, die nach vier Saisons beim Chelsea FC inzwischen bei den Portland Thorns angekommen ist.

„Aber, und das ist wichtig, ich habe nichts anderes von ihr gesehen als vorher. Jessie hat das Kapitänsamt aufgrund dessen bekommen, was sie die ganze Zeit über gezeigt hat, von der Jugend bis dahin, wo sie jetzt ist“, so Priestman.

„Ich kann es kaum erwarten, sie in diesem Turnier so richtig aufblühen und groß rauskommen zu sehen, weil sie schon jetzt so viel Turniererfahrung gegen große Teams hat. Sie wird von unglaublichen Führungspersönlichkeiten um sie herum unterstützt, wie Kadeisha Buchanan, unterschiedlichen Persönlichkeiten, die sich aber bei der Führung dieses Teams wirklich gut ergänzen.“

Medaillen-Spiegel / bisheriges Abschneiden

1996 – 2004 nicht qualifiziert
2008 Platz 8
2012 Bronze
2016 Bronze
2020 Gold

Wie haben sie sich qualifiziert?

CONCACAF-Play-off gegen Jamaika (insg. 4:1)

Beitragsbild: IMAGO/ZUMA Press

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Annika Becker berichtet als Journalistin unter anderem für OneFootball und sportschau.de über die Bundesliga der Frauen. In ihren Kolumnen für web.de beleuchtet sie die strukturellen Themen im Fußball. Seit 2022 gehört sie zur Jury des Guardian für die Wahl der „100 Best Female Footballers In The World“. Becker ist Teil der Crew von „FRÜF – Frauen reden über Fußball“, ansonsten podcastet sie bei der „Halbfeldflanke“ und ist als Expertin zum Beispiel im DLF oder bei der BBC zu hören. Für den Rasenfunk war sie bei der WM 2023 in Australien. An den Wochenenden findet man sie auch privat meist im Stadion, denn Beckers Fußball-Herz schlägt für zwei Ruhrgebietsvereine: den FC Schalke 04 und die SGS Essen.

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