Hillsborough: 35 Jahre danach
Am 15. April 1989 kam es im Hillsborough Stadium in Sheffield zu einer der schlimmsten Katastrophen im Fußball, die 97 Todesopfer gefordert hat. Wie Medien und Politik mit dem Unglück umgingen, ist auch für die Gegenwart relevant. Ziel war es, zu verschleiern: den schlechten Zustand vieler Stadien, restriktive Maßnahmen gegenüber Fans, fahrlässiges Vorgehen der Polizei.
Hillsborough-Katastrophe. Das ist heute vielen ein Begriff, doch nur wenige wissen, was am 15. April 1989 in dem Stadium in Sheffield genau geschehen ist. Dabei ist dieser Ort, ist diese Geschichte sehr wichtig für den Fußball. Was hier versucht werden soll, ist eine Annäherung an das Datum unter Betrachtung verschiedener Aspekte: das „Hooligan-Problem“, die Medien, die Infrastruktur sowie Polizei und Politik.
Annäherung an die Katastrophe
Als der Schiedsrichter Ray Lewis am 15. April 1989 um 15:06 das Pokalhalbfinale zwischen Liverpool und Nottingham Forest nach nur sechs Minuten wieder abpfiff, war nichts mehr wie zuvor im Fußball. Mit einem Schlag stand der Sport vor dem Abgrund – und die Welt sah zu. Denn die Katastrophe wurde live im Fernsehen gezeigt.
Bis zur Einführung der Premier League im Jahre 1992 war der FA Cup, der englische Verbandspokal, ein durchaus populärer Wettbewerb, den auch die „großen“ Clubs aus Liverpool, Birmingham, Manchester und London ernst nahmen. Seit jeher werden die Halbfinals auf neutralem Boden ausgespielt, so auch am 15. April 1989, als Nottingham und Liverpool in Sheffield im Stadion von Sheffield Wednesday, Hillsborough aufeinandertrafen.
Viele Augenzeugen berichten von einem schönen, sonnigen Tag, dem ersten warmen des Jahres. Die Fans aus Liverpool und Nottingham kamen in guter Stimmung; keiner wollte bewusst für Ärger, sprich Ausschreitungen sorgen. Dies widerspricht Aussagen der Polizei, die später immer wieder darauf hinwies, dass marodierende Liverpool-Fans sich gewaltsam Zugang zum Stadion verschafft und damit die Katastrophe ausgelöst hätten.
Um 14:30 Uhr waren die Bereiche, in denen sich kurz darauf die Katastrophe ereignete, bereits gut gefüllt, der Platz wurde eng. Zum einen, weil der englische Fußballverband (FA) den Anhängern aus Liverpool die kleinere Tribüne zugewiesen hatte, zum anderen, weil die Stehtribünen eher Käfigen glichen, aus denen es keinen anderen Ausweg gab, als den Zugang. Und von dort strömten immer mehr Menschen in die Blöcke.
Die Tribüne wird zur Todesfalle
Die Liverpool-Blöcke drei und vier unmittelbar hinter dem Tor waren irgendwann voll, von hinten strömten aber immer weiter Menschen nach. Um alle Fans rechtzeitig ins Stadion zu bekommen, ließ die Polizei weitere Tore öffnen. Erst Jahre später gab der damals verantwortliche Polizist David Duckenfield zu, diesbezüglich gelogen zu haben. Seinerzeit hatte er der FA fälschlicherweise erklärt, die Liverpool-Fans selbst hätten die Tore zur Tribüne geöffnet, wodurch immer mehr Menschen in den Block gelangt waren. Die Tribüne wurde zur Todesfalle.
Weitere Details sollen hier nicht beschrieben werden, dazu gibt es reichlich Literatur; empfohlen seien die Bücher von Phil Scraton und Adrian Tempany. Während Scratons Buch als eine der besten Darstellungen der Katastrophe sowie der Konsequenzen gilt, beschreibt Tempany wie es im Block war: Er ist ein Überlebender.
Wie konnte es dazu kommen, dass ein Stadion Schauplatz einer solchen Katastrophe werden konnte? Was war geschehen? Hier gibt es drei große Faktoren, die eine Rolle gespielt haben: 1. das „Hooligan-Problem“, 2. die Beziehung Sport und Medien sowie 3. die Infrastruktur.
Hooligans: Ein neues Problem?
Das „Hooligan-Problem“ war in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts kein neues. Eric Dunning hat bereits im selben Jahrzehnt dargelegt, dass Zuschauer*innen-Ausschreitungen seit jeher zum Fußball gehörten. Er zitiert einen Bericht aus den 1870er Jahren, in dem es heißt:
„Aufruhr, widerspenstiges Verhalten, Gewalttätigkeiten, Übergriffe und Vandalismus […] haben zumindest seit den 70er Jahren zu einem festen, wenn auch nicht dominanten Teil des Zuschauerverhaltens gehört.“
Eric Dunning, The Roots of Football Hooliganism
Dunning spricht weiterhin davon, dass die Geschichte des Fußballs schon immer „eine Geschichte des Aufruhrs, der Ausschreitungen, der Unordnung, kurz des abweichenden Verhaltens“ war. Fußballfans werden nicht erst seit gestern verteufelt und als die schlimmste Bedrohung für das Spiel dargestellt.
Was aber in den 1960er Jahren geschah, war eine fast schon pathologische Fokussierung der britischen Medien auf dieses Thema, das daraufhin zu einem Problem erklärt wurde – und für moralische Entrüstung Anlass bot. Hinzu kam, dass Hooligan Firms sich Woche für Woche in den Stadien Englands Kämpfe lieferten, die Plätze stürmten und Züge auseinandernahmen. Es bestand also ein Problem, das war nicht von der Hand zu weisen.
Hinzu kam zudem ein Rechtsruck in der Politik, der in der Wahl von Margaret Thatcher zur Premierministerin in Großbritannien seinen Ausdruck fand. Randgruppen und Andersdenkende wurden stigmatisiert – und so wurde auch mit Fußball und Hooligans verfahren. Fast automatisch wurde jede*r Fußballfan so in den 1980er Jahren als Hooligan geframt, ohne etwas mit Gewalt zu tun zu haben.
Der Sport-Medien-Komplex
Diese Verrohung im Umgang und in der Sprache blieb nicht ohne Folgen. Durch die Weltmeisterschaft 1966 in England bekam der Fußball zudem sehr viel mehr mediale Aufmerksamkeit als vorher. Ein Augenmerk lag auf den Spielern, die erstmals zu Stars wurden – und deren Geschichten sich nicht mehr nur im Sport fanden, sondern auch in den Klatschspalten. Die Regenbogenpresse stürzte sich auf den Fußball. Plötzlich war da auch die häßliche Seite des Sports: Ausschreitungen und Platzstürme.
Infolge dessen kam es zu Umbauten der Stadien. Die Tribünen für die Auswärtsfans wurden zu Käfigen, die mit Stacheldraht gesichert wurden. Der einstige Vereinsbesitzer von Chelsea, Ken Bates, überlegte sogar, die Zäune unter Strom zu setzen. Behörden und Presse sahen die Verantwortung für die Hillsborough-Katastrophe folglich bei den Anhänger*innen von Liverpool. Das Stand auch in der Logik von Heysel: Im Mai 1985 waren es Liverpool-Fans gewesen, die eine Mauer zum Einsturz brachten, was 39 Todesopfer zur Folge hatte.
Die Infrastruktur der Stadien
Schon zuvor hatte es Unfälle und Katastrophen in den Stadien gegeben. Im Jahre 1946 das Unglück im Burnden Park, dem alten Stadion von Bolton Wanderers, mit 33 Toten. Die bis 1989 größte britische Katastrophe im Fußball war im Januar 1971 das „Ibrox-Disaster“, als Fans auf den Treppen zu Fall kamen und 66 Menschen starben. Und 1985 geht als das „annus horribilis“ ein, mit dem Feuer in Valley Parade, dem Stadion von Bradford City Anfang Mai, und nur 20 Tage später der Katastrophe von Heysel in Brüssel. Schließlich 1989 Hillsborough.
„Policing has profoundly failed those bereaved by the Hillsborough disaster over many years and we are sorry that the service got it so wrong.“
Andy Marsh, chief executive of the College of Policing (2023)
Die Partie Liverpool gegen Forest hatte es bereits 1988 im Pokalhalbfinale gegeben, auch damals in Hillsborough. Schon da wurden Bedenken geäußert, dass die Tribüne für die Liverpool-Fans zu klein sei und die Zugänge nicht adäquat. Doch nichts geschah, bevor sich die Katastrophe in jenem April ereignete. Die Hinterbliebenen wiederum kämpfen bis heute dafür, dass diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die das Unglück verschuldet haben. Ein positiver Meilenstein war 2016 das Urteil, wonach die Fans ohne eigenes Verschulden umgekommen seien und polizeiliche Fehleinschätzung die Katastrophe ausgelöst hat.
35 Jahre nach Hillsborough
Was hat aber Hillsborough mit dem Fußball im 21. Jahrhundert zu tun? Die Stadien sind inzwischen sehr viel sicherer geworden und obendrein viel moderner, auch der Zugang ist organisierter und reglementierter, als es noch in den 1980ern der Fall war. Es ist allerdings erschütternd, dass der Fußballsport als gesellschaftliches Subsystem erst durch eine Reihe von Katastrophen zu einem Umdenken gezwungen wurde.
Fußball ist endgültig Teil der Unterhaltungsindustrie geworden und wird auch so präsentiert. Das Publikum hat sich enorm geändert: mehr Mittelklasse als Arbeiterklasse, dem traditionellen Milieu des Sports in England und Deutschland.
Das Gewaltproblem hat sich nach außen verlagert und findet in den Stadien kaum mehr statt. Trotzdem werden gerne Horroszenarien heraufbeschworen, wobei eine Gruppe gesondert betont wird: Ultras. Stimmungsmacher oder die Pyromanen – je nachdem aus welchem Blickwinkel man auf den Fußball schaut. Auch heute noch werden Fußballfans gerne als Sündenböcke für alles, was im Stadion schiefgeht, hingestellt. Einige Medien übernehmen weiterhin ungeprüft die Narrative der Polizei, andere sind da weiter, sprechen auch mit Fans und Vereinen.
Hillsborough bleibt indes ein Mahnmal. Auch deswegen ist es wichtig, der Katastrophe und ihrer Opfer zu gedenken.
Beitragsfoto: IMAGO/Colorsport