Boom, Boom, Boom!
Der Fußball der Frauen braucht Investitionen, um an Sichtbarkeit zu gewinnen. Gleichzeitig könnte er dadurch Werte verlieren. Wohin soll es gehen? Turbine Potsdam und Viktoria Berlin illustrieren das Wachstumsdilemma
des deutschen Frauenfußballs. – Eine ballesterer-Archivperle von Tobias Fries
Noch haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben. Dagmar und Mario Koebe hängen sich wie jedes Wochenende ihre Trommeln um den Hals, um den 1. FFC Turbine Potsdam anzufeuern. Die 60-Jährige und der 61-Jährige sind im Karl-Liebknecht-Stadion zentraler Teil des sitzenden Fanblocks auf der Haupttribüne. Seit 2005 machen sie von hier aus Stimmung.
Turbine Potsdam: lange, erfolgreiche Geschichte
Vor dem Spiel gegen die SGS Essen Ende April sind sie guter Dinge. Und das, obwohl Turbine es seinen Fans gerade nicht leicht macht. Nach 17 Spielen stehen die Potsdamerinnen mit acht Punkten auf dem letzten Tabellenplatz. Zuletzt hat es aber zwei Siege gegeben.
Turbine steht heute sinnbildlich für die Entwicklung der Frauen-Bundesliga in Deutschland. In Potsdam haben sie es zu spät gemerkt: Es ist eine neue Zeit angebrochen.
Tobias Fries, Journalist
Deshalb sind „Dagi“ und „Pepe“, wie das trommelnde Ehepaar im Stadion genannt wird, weiter kämpferisch. Gegen Essen heizen sie pausenlos ein, unterstützt von vier weiteren Trommlern und den Klatschpappen der knapp 1.000 Zuschauer. Auf dem Platz kann Turbine lange mithalten, in der 72. Minute fällt aber das letztlich entscheidende 1:0 für die Gäste.
Es ist das Duell der letzten beiden reinen Frauenfußballvereine der deutschen Bundesliga, der Verlierer wird am Ende der Saison absteigen, so viel steht drei Wochen später fest. Turbine war sechsmal Meister der DDR, sechsmal im vereinten Deutschland und gewann 2005 und 2010 die Champions League. Der Klub aus Brandenburg, der einst zu den besten Europas gehörte, steht heute sinnbildlich für die Entwicklung der Frauen-Bundesliga in Deutschland. In Potsdam haben sie es zu spät gemerkt: Es ist eine neue Zeit angebrochen.
Treiberinnen der Zeitenwende in Berlin
Nur etwa 16 Kilometer entfernt, in Berlin-Lichterfelde, fertigt einer der Treiber dieser Zeitenwende gerade die Gegnerinnen ab. Das Frauenteam des FC Viktoria 1889, ein von Investorinnen geführtes Start-up, liegt zur Halbzeit in der drittklassigen Regionalliga Nordost 3:0 gegen Eintracht Leipzig-Süd vorn. Die jungen Familien und ein Trommler auf der Tribüne sehen im denkmalgeschützten Stadion Lichterfelde eine locker-leichte Vorstellung des Heimteams und nach der Pause noch zwei Tore.
Was hier entsteht, könnte bald bundesligareif und die Zukunft des deutschen Frauenfußballs sein. Was hier entsteht, ist ganz anders als in Potsdam. Es sind etwa 300 Fans gekommen, nur zwei bis drei machen überhaupt Stimmung, die anderen versuchen maximal, ab und zu im Takt mitzuklatschen. Dafür befinden sich für einen Drittligisten der Frauen außergewöhnlich namhafte Sponsorentafeln im Stadion, hinter den Toren parken Kleinwägen mit dem Aufdruck einer Autovermietung.
Und sportlich läuft es rund. Die Viktoria steht uneinholbar an der Tabellenspitze und spielt damit im Juni in der Relegation zur zweiten Liga. Möglich gemacht haben das sechs Investorinnen, die vor rund einem Jahr das in eine Kapitalgesellschaft ausgegliederte Frauenteam übernommen haben. Eine von ihnen, Geschäftsführerin Felicia Mutterer, steht heute ausnahmsweise nicht auf der Tribüne. Sie ist nach Köln gereist, wo gerade der Zuschauerrekord der Bundesliga aufgestellt wird.
Mehr als 38.000 Fans sind zum Spiel zwischen dem 1. FC Köln und Eintracht Frankfurt gekommen. Nach dem Eröffnungsmatch zwischen Frankfurt und dem FC Bayern vor rund 23.000 ist das die nächste Bestmarke in dieser Saison. Bereits nach dem siebten Spieltag sind mehr Zuschauer zu den Bundesliga-Spielen gekommen als in der gesamten Vorsaison. DFB-Präsident Bernd Neuendorf berichtete auf dem Sportkongress Spobis nach der EM 2022 in England von einem Zulauf im Frauen- und Mädchenbereich, den die Vereine gar nicht auffangen könnten. Aber nicht nur in Deutschland boomt der Fußball der Frauen.
„Das Potenzial des Frauenfußballs ist grenzenlos, und wir glauben, dass wir auf dem besten Weg sind, den Frauenfußball zu Höhen zu führen, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren.“
Nadine Kessler, Direktorin Frauenfußball UEFA
Über das Wachstumspotenzial schreibt auch die UEFA in ihrem Bericht „The Business Case for Women’s Football“. Demnach könnte sich der kommerzielle Wert des Ligafußballs in den kommenden zehn Jahren auf 686 Millionen Euro versechsfachen. Der Kontinentalverband erhofft sich im gleichen Zeitraum außerdem doppelt so viele Fans. „Das Potenzial des Frauenfußballs ist grenzenlos, und wir glauben, dass wir auf dem besten Weg sind, den Frauenfußball zu Höhen zu führen, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren“, wird UEFA-Frauenfußballchefin Nadine Kessler in dem Bericht zitiert.
Ceferin: Frauenfußball entwickeln wie Männerfußball
Es sei jetzt an der Zeit, daraus Kapital zu schlagen, sich zu engagieren und zu investieren. UEFA-Präsident Aleksander Ceferin sagte vor dem EM-Finale zwischen England und Deutschland: „Wir müssen den Frauenfußball exakt so entwickeln wie den Männerfußball.“
In Deutschland ist eine Veränderung deutlich sichtbar. In den vergangenen Jahren gründeten immer mehr Lizenzvereine, also Erst- und Zweitligaklubs der Männer, eine Frauenabteilung oder investierten in ihre bestehenden Teams. Vor zehn Jahren waren noch der FSV Gütersloh, der VfL Sindelfingen und der SC 07 Bad Neuenahr in der Bundesliga vertreten, heute spielen dort die TSG Hoffenheim, Werder Bremen und der 1. FC Köln. Borussia Dortmund hat 2021 ein Frauenteam in der Bezirksliga gegründet und Hertha BSC im April eine Regionalligasektion übernommen.
Eintracht Frankfurt hat 2020 den damaligen Rekordmeister und vierfachen Champions-League-Sieger 1. FFC Frankfurt eingegliedert. Und für die kommende Bundesliga-Saison steht bereits RB Leipzig als Aufsteiger fest. Künftig gehören ein Frauen- oder Mädchenteam im Spielbetrieb oder die Kooperation mit einem entsprechenden Verein sogar zu den Lizenzkriterien im Profifußball der Männer. So kommen Vereine in den Frauenfußball, die die Liga durch ihr Geld professionalisieren und sichtbarer machen können. Allerdings bleiben die früher dominierenden Frauenklubs auf der Strecke.
Durchschnittlich machten die Bundesliga-Vereine in der Saison 2021/22 laut DFB ein Minus von 1,5 Millionen Euro. Treibend dafür waren die Lizenzvereine, die die Verluste durch die Einnahmen der Männerabteilung ausgleichen konnten. Die Vereine, die keinem Profimännerklub angehören, gaben ebenfalls mehr aus, als sie einnahmen, hier waren es aber nur 150.000 Euro. Die Schere dürfte in den kommenden Jahren weiter auseinandergehen – sollte es dann überhaupt noch reine Frauenvereine in der Bundesliga geben. Nächste Saison wird es nur noch die SGS Essen sein.
„Wir waren vor zehn Jahren der Topverein in Europa – heute sind uns die anderen meilenweit überlegen.“
Mario Koebe, Fan von Turbine-Potsdam
Der Abstieg von Turbine Potsdam kommt trotz dieser Entwicklungen überraschend. Auch wenn Titel ausblieben, hielt sich der Verein in den vergangenen Jahren immer im oberen Tabellendrittel. Doch die Entwicklung stagniere, die Nachwuchsarbeit werde vernachlässigt, sagt Trommler Mario Koebe. „Wir waren vor zehn Jahren der Topverein in Europa – heute sind uns die anderen meilenweit überlegen.“
Gegensatzmodelle Turbine – Viktoria
Nachdem Turbine in der vergangenen Saison als Vierte knapp die Champions-League-Qualifikation verpasst hatte, sorgten mehrere Faktoren für Unruhe. Es begann schon bei der Präsidentenwahl im Sommer 2021, als sich der langjährige Amtsinhaber Rolf Kutzmutz knapp gegen die ehemalige Turbine- und Nationalteamspielerin Tabea Kemme durchsetzte, um wenig später im Streit um die Entlassung des damaligen Trainers Sofian Chahed zurückzutreten. Ihm folgten der Vizepräsident und zwei Vorstandsmitglieder.
Vor der aktuellen Saison verließen zwölf Spielerinnen, darunter die Talente Melissa Kössler und Selina Cerci, den Verein, im Herbst musste mit Sebastian Middeke der nächste Trainer gehen. „Alle schienen mit sich selbst beschäftigt zu sein, ohne dass es einen Perspektivplan gegeben hat. So ist die Situation im Herbst implodiert, und wir haben in einer sportlich schwierigen Phase einen Neustart vollziehen müssen“, sagt Karsten Ritter-Lang dem ballesterer. Der Arzt wurde im November 2022 zum Präsidenten gewählt. Als Opfer der Lizenzvereine sieht er seinen Klub angesichts der eigenen Probleme nicht. „Letzten Endes hängt es immer an der Kohle“, sagt er. So sei Turbine gerade dabei, die Satzung zu ändern, damit Sponsoren leichter investieren können.
Nebenan, bei Viktoria Berlin, wurde bereits investiert. Eine Millionen Euro sollen sechs Investorinnen, darunter die ehemalige Teamspielerin Ariane Hingst und Unternehmerinnen wie Lisa Währer, gesammelt haben. Unterstützt wurden sie von einem Netzwerk an Kleininvestorinnen, zu dem Prominente wie ZDF-Moderatorin Dunja Hayali, Ex-Schwimmerin Franziska van Almsick und Kabarettistin Carolin Kebekus gehören. Vorbild ist der Angel City FC, der in Besitz von Schauspielerin Natalie Portman, Ex-Tennisspielerin Serena Williams und anderen ist.
Die Gründerinnen haben sich Viktoria ausgesucht, weil sie das Projekt in Berlin aufziehen wollten und es dort eine sportliche Grundlage für ihre Ziele gab. Sie wollen nämlich in die Bundesliga – und das bis 2027. Dafür haben die neuen Chefinnen dem Frauenteam ein hippes Design verpasst, auf der Website wie bei den Fanartikeln. Sie wollen das Team wie ein Start-up führen, reden vom Fußball als „Business Case“.
Neue Erzählweisen in festgefahrenem Narrativ
Geschäftsführerin Mutterer ist Journalistin, arbeitete für die ARD, ehe sie Straight, ein Printmagazin für Lesben, und eine Podcastagentur gründete. Nun will sie mit Viktoria Berlin den Frauenfußball voranbringen. „Wir kommen aus einer männlichen überkommerzialisierten Fußballwelt, in der Frauenfußball zeitweise sogar verboten war“, sagt sie dem ballesterer.
„Jetzt bringen wir eine neue Erzählweise in ein festgefahrenes Narrativ. Mit unserem Leuchtturm können wir andere mitziehen. Und die Resonanz ist unfassbar groß.“ In der Spitze kämen 2.000 Fans zu den Spielen. Zudem hat es in der abgelaufenen Saison vom Spiel gegen Türkiyemspor bei Sport1 die erste Fernsehübertragung aus der Regionalliga gegeben.
Es gibt aber auch Kritik an dem Projekt, Investoren haben im deutschen Fußball keinen guten Ruf. Ein Viktoria-Fan, der das Frauenteam schon vor der Übernahme unterstützt hat, sagt dem ballesterer: „Ich hoffe, dass sie nicht aufsteigen. Ich finde es schade, dass die Leute nur dahin gehen, wo das Geld ist.“ Er verliere außerdem die Identifikation mit den Spielerinnen, weil sie für den Erfolg ausgetauscht würden. „Sobald die Hälfte des alten Teams weg ist, bin ich es auch.“ Der Fan möchte lieber anonym bleiben.
„Manche hätten es lieber, dass alles klein bleibt, aber darauf sind wir nicht angelegt. Ich hoffe trotzdem, dass die Fans von früher dabeibleiben.“
Felicia Mutterer, FC Viktoria Berlin
Mutterer kann die Kritik nicht nachvollziehen. „Man kann uns nicht den Vorwurf machen, dass wir das Team ausgetauscht hätten. Nach der Übernahme sind alle geblieben, die bleiben wollten“, sagt sie. „Manche hätten es lieber, dass alles klein bleibt, aber darauf sind wir nicht angelegt. Ich hoffe trotzdem, dass die Fans von früher dabeibleiben.“ Auch dass man mit RB Leipzig verglichen werde, kann sie nicht verstehen: „Unser Hauptziel ist nicht Gewinnmaximierung, wir sind eine Bewegung.“
Investo-ren, sagt die Geschäftsführerin, würden manchmal zu Unrecht verteufelt, Red Bull und Dietmar Hopp von der TSG Hoffenheim hätten den Fußball der Frauen frühzeitig gefördert. „Das sind nicht immer Halunken, da kann genauso viel Idealismus wie bei Traditionsvereinen dahinter sein – nur vielleicht mit mehr Zeitgeist.“ Dabei verweist Mutterer auf die englische Women’s Super League, in der alle Klubs in Besitz von Unternehmen und Privatpersonen sind.
Klubs klug und nachhaltig entwickeln
In England spielen ausschließlich Frauensektionen von hochklassigen Männerklubs in der ersten Liga. Wirtschaftlich und sportlich gesehen funktioniert das: Die englische gilt mittlerweile als die stärkste Liga der Welt, zu den Hinrundenspielen 2022/23 sind laut der Sportmarketingagentur Two Circles im Schnitt fast 7.000 Menschen gekommen. In der deutschen Bundesliga waren es 3.000.
„Die Frauenvereine haben sich zu Zeiten gegründet, als der Fußball von Frauen noch verpönt war. Das sind die Vorreiter der Emanzipation, die wir bis heute noch nicht voll umgesetzt haben.“
Karsten Ritter-Lang, Turbine-Präsident
Allerdings haben im englischen Konzept Vereine wie Turbine Potsdam keine Chance. Dass es diese aber brauche, darin sind sie sich bei Turbine einig. „Die Liga verliert ein bisschen Herz“, sagt Mario Koebe. „Wir schmeißen nicht mit Geld um uns, wir arbeiten ehrlich. Bei Lizenzvereinen wird einfach ausgetauscht, wenn es nicht funktioniert.“ Und Ritter-Lang ergänzt: „Die Frauenvereine haben sich zu Zeiten gegründet, als der Fußball von Frauen noch verpönt war, als der DFB keine offiziellen Wettbewerbe gestattet hat. Das sind die Vorreiter der Emanzipation, die wir bis heute noch nicht voll umgesetzt haben.“ Diese Werte, fürchtet der Turbine-Präsident, könnten in Zukunft verloren gehen. „Der Rest sind bezahlte Armeen wie bei den Männern, die einfach nur Fußball spielen.“
Ritter-Lang würde sich für Turbine deshalb eine Entwicklung wie bei den Männerteams von Freiburg und Union Berlin erhoffen. „Dort hat sich der Klub über Jahre klug und nachhaltig entwickelt, ohne mit Sponsoren eingedeckt zu sein.“ Das Trommlerpaar Koebe wünscht sich vom DFB eine ausgeglichenere Verteilung der Gelder. Und dass sich der Fußball der Frauen nicht so kommerzialisiert wie bei den Männern. Nun muss Turbine aber erst einmal den Wiederaufbau in der zweiten Liga meistern. Dort treffen sie vielleicht auf die Viktoria aus Berlin, sollte das Start-up die Relegation gegen den Hamburger SV gewinnen. Dann wäre es für beide immerhin eine kurze Auswärtsfahrt.
Zuerst veröffentlicht im ballesterer 180. Beitragsbild: Silvo Gasser