Junge Männer beim Fußballspiel in einer Sportstätte in London im Jahre 1870, England, digital restaurierte Reproduktion einer Originalvorlage aus dem 19. Jahrhundert, genaues Originaldatum nicht bekannt. Credit: IMAGO/Tschanz-Hofmann

Einheitliche Fußballregeln? Fehlanzeige!

Bevor zwei Teams mit dem Fußballspielen beginnen konnten, stand etwas Essentielles auf der Tagesordnung: Die Fußballregeln. Welche sollten es denn sein? Die von Team A oder Team B – und damit einem Vorteil für Team A oder B? Oder wechselte man fairerweise zur Halbzeit? Oder tüftelte für dieses Spiel ganz neue Regeln aus, die aus Teilen beider Regelwerke bestehen?

Die Rede ist nicht von einem kurzen Kick in der großen Pause auf dem Schulhof oder nachmittags im Park, sondern von Spielen in Großbritannien im 19. Jahrhundert. 

Wusstet ihr, dass es im 19. Jahrhundert zahlreiche Fußball-Regelbücher gab und dass die heutigen Fußballregeln nicht nur auf die FA Rules von 1863 zurückgehen?

Ungewöhnliche Fußballregeln

Damals hatte jeder Verein, jede Schule ihre ganz eigenen Fußballregeln, und deshalb spielte man vorwiegend auch nur untereinander. Mitunter gab es gar keine festgelegte Spielzeit oder Spieleranzahl. Manchmal variierte auch die Spieleranzahl, um die Spielfähigkeit auszugleichen. Fünf sehr gute Spieler gegen zehn gute bis mäßige Spieler beispielsweise.

Und es gab damals noch keine Unterteilung in Fußball, Rugby und Football etwa … es hieß alles „football“, und selbst in den wenigen Spielvarianten ohne Aufheben des Balles (= Laufen mit Ball im Arm) war der Fair Catch selbstverständlich. Auch noch in den frühen FA Rules war das direkte Fangen des Balles aus der Luft erlaubt, ja, wurde sogar mit einem „free kick“ belohnt – mit einem ungehinderten, daher freien Schuss. Erst drei Jahre nachdem der Fair Catch in diesem Regelwerk verboten worden war (1874) wurde der Freistoß wiedereingeführt, nun als Wiedergutmachung für ein erlittenes Foulspiel.

Fußball in London und Sheffield: Ringen um Einfluss – und natürlich um Geld

A propos FA Rules: In England gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei größere Fußballverbände: einen in London und einen in Sheffield, im Norden Englands. Während die Londoner FA (und spätere nationale FA) ihre zunächst strengen, rugbyähnlichen Regeln bevorzugte, entschied sich der Sheffield Fußballverband für Regeln, die ein schnelles, offensives Spiel ermöglichten.

Dazu gehörte das 2-Spieler-Abseits, wie wir es heute im Grunde kennen, während nach den London FA Rules jeder Spieler zwischen Ball und gegnerischem Tor im Abseits stand. Da war es nur möglich, dass ein Spieler den Ball führte und alle Mitspieler ihm folgend assistierten, aber kein Kombinationsspiel wie bei den Clubs der Sheffield FA.

Das offensivere Spiel lockte ein größeres Publikum an und bescherte den Mitgliedsclubs gute Einnahmen. Das fanden die Gentlemen in der englischen Hauptstadt freilich alles andere als gut, und sorgten sich zudem um den Fall ihrer FA in die englische Bedeutungslosigkeit. Um dem entgegenzuwirken, machte sie etwas, dass auch der DFB 1970 angesichts der großen Interesse am Fußball der Frauen wiederholte: Man wich von seinen Prinzipien ab. Nicht, weil man einen Sinneswandel hatte, sondern schlicht aus Angst um die eigene Macht und Einfluss.

Im London der späten 1860er und in den 1870er Jahren waren die Schachzüge eine Öffnung der Abseitsregel und die Einführung eines Pokalwettbewerbs für alle Mitglieder: der FA Cup.

Auf dem Weg zur nationalen FA

Long story short: Insbesondere die Einführung des FA Cups war ein echter Erfolg und bescherte der FA in London steigende Mitgliederzahlen. Doch nicht alles war gut, denn die 1870er Jahre waren auch von Treffen und Meinungsverschiedenheiten zwischen John Charles Shaw (Sheffield FA) und Charles William Alcock (London FA) über eine gemeinsame Zukunft geprägt.

1875 beschloss die Sheffield FA, die defensivere Abseitsregel der FA nicht zu übernehmen – und damit einen großen Schritt Richtung Anpassung der Londoner Fußballregeln zu gehen. Ausschlaggebend war möglicherweise, dass die Londoner nicht den angebotenen Kompromiss annahmen, als Gegenleistung den Kick-In als Alternative zum Einwurf in die Londoner Regeln aufzunehmen.

Es dauerte zwei Jahre, bis schließlich doch alle Clubs der Sheffielder FA Mitglied der Londoner FA wurden: Zu den Konditionen von 1875, das heißt mit 3-Mann-Abseits und ohne Kick-In. Obwohl die Sheffield FA als regionaler Verband weiter existiert, verlor sie ihre einflussreiche Position, während die Londoner FA mit ihren nun weithin in England verwendeten Fußballregeln einen riesengroßen Schritt Richtung englischem Fußballverband nahm.

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Petra Tabarelli ist Fußballhistorikerin und -journalistin. Die Spezialistin für die Entwicklung der Fußballregeln schreibt für die DFB-Schiedsrichter-Zeitung, ist als Expertin im Deutschlandfunk zu hören und hat als Beraterin fürs IFAB gearbeitet. Tabarelli ist Mitglied des prämierten Kollektivs „FRÜF“ und setzt sich in der web.de-Kolumne für eine stärkere Präsenz und Förderung von Schiedsrichterinnen im Fußball der Männer ein. 2023 wurde sie zum Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur ernannt. Zudem hat die Expertin die erste Biografie über den zu Lebzeiten sehr bekannten Simon Rosenberger geschrieben, einen jüdischen Fußball-Pionier und Begründer der DFB-Schiedsrichter-Zeitung, der zuvor aus der Geschichte getilgt worden war.

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